Wie viel direkte Demokratie verträgt die Schweiz? Noch vor wenigen Jahren wäre diese Frage absurd gewesen. Das Recht der Stimmbürger, den politischen Prozess mit Volksinitiative und Referendum mitzugestalten, wurde von keiner Seite in Frage gestellt. Kaum einmal wagte das Parlament, ein Volksbegehren für ungültig zu erklären. Die Volksrechte waren ein Grund, auf die Schweiz stolz zu sein.
Im Grundsatz gilt das noch heute. Doch die kritischen Stimmen mehren sich. Der Ständerat will Initiativen verstärkt auf ihre Gültigkeit abklopfen. Und die Bundeskanzlei hat eine «Denkgruppe» eingesetzt, die sich mit möglichen Reformen der Volksrechte befasst. Die Volksinitiative wandle sich «von einem Sach- zu einem Machtinstrument», stellte das von der «SonntagsZeitung» als «Geheimgruppe» skandalisierte Gremium fest. Als Gegenmittel werden unter anderem eine Vorprüfung durch das Parlament und eine Erhöhung der Unterschriftenzahl vorgeschlagen.
Die fehlende Transparenz ist bedauerlich, das Nachdenken über die direkte Demokratie aber sinnvoll. In den letzten Jahren hat eine bedenkliche Entwicklung stattgefunden. Mehrfach wurden problematische Volksinitiativen nicht nur lanciert, sondern auch angenommen: Verwahrungs-, Unverjährbarkeits-, Minarett-, Ausschaffungs- und zuletzt Pädophilen-Initiative. Sie kollidieren mit Grundrechten und internationalen Verträgen und sind nur schwer umsetzbar.
Und nun hat die Schweizerische Volkspartei (SVP) noch einen draufgelegt. Sie hat eine «Durchsetzungs-Initiative» eingereicht, mit der sie die wörtliche Umsetzung ihrer Ausschaffungs-Initiative verlangt, bevor das entsprechende Gesetz im Parlament überhaupt zu Ende beraten wurde. Im Fall der Zuwanderungs-Initiative droht die SVP mit dem gleichen Mittel. Es handle sich um ein «neues Phänomen», stellte die Zürcher GLP-Ständerätin Verena Diener, Präsidentin der Staatspolitischen Kommission, am Dienstag vor den Medien fest.
Die Durchsetzungs-Initiative ist eigentlich systemwidrig. Sie will ein Gesetz in der Verfassung festschreiben, wofür diese nicht gedacht ist. Ähnliches gab es schon früher. Bei Minarettverbot und Zweitwohnungsstopp etwa geht es um Bauvorschriften, auch sie gehören nicht ins Grundgesetz. Doch nun liegt eine neue Dimension vor: Die SVP strebt nichts weniger an als einen Volksabsolutismus – die Herrschaft der Mehrheit nicht nur über die Minderheit, sondern auch über Regierung, Parlament und Justiz, die drei Säulen jeder modernen Demokratie.
Mit dieser Verabsolutierung des Volkswillens begibt sich die SVP einen gefährlichen Pfad, unabhängig davon, ob das Volk nun «Recht» hat oder nicht. Eine rechtsstaatliche Demokratie funktioniert nur, wenn sich die verschiedenen Player gegenseitig kontrollieren und in Schach halten. «Checks and Balances» nennt man das in der angelsächsischen Welt. Das Volk kann davon nicht ausgenommen werden. Doch die SVP will noch weiter gehen. Bereits liebäugelt sie damit, Landesrecht über das Völkerrecht zu stellen und dieses faktisch auszuhebeln.
Was ist zu tun? Der Basler Staatsrechtler Markus Schefer hat gegenüber watson vorgeschlagen, Volksinitiativen vom Bundesgericht auf ihrer Gültigkeit überprüfen zu lassen. Auch für eine Erhöhung der Unterschriftenzahl gäbe es gute Gründe, vor allem das Bevölkerungswachstum seit 1976, als das Quorum letztmals angepasst wurde.
Wichtiger als solche Schräubeleien am System aber wäre, «sich mit offenem Visier dem aktuellen Machtkampf zu stellen», wie der Politgeograf Michael Hermann im «Tages-Anzeiger» festhielt. Es gälte, der Durchsetzungs-Initiative mutig Paroli zu bieten und das Volk daran zu erinnern, dass auch kriminelle Ausländer Rechte haben.
Der politischen Linken fehlt dafür aus verschiedenen Gründen die Glaubwürdigkeit. Gefordert wäre in erster Linie die bürgerliche Mitte, allen voran die klassischen «Staatsparteien» CVP und FDP. Doch diese haben in den letzten Jahren ein bedenkliches Bild abgeliefert und sich vor allem bei Ausländerthemen der SVP regelrecht unterworfen. Tiefpunkt war ihre Zustimmung im Nationalrat zu einer wörtlichen Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative, in der mehr als vagen Hoffnung, die SVP möge doch bitte ihre Durchsetzungs-Initiative zurückziehen.
Feigheit vor dem Feind, möchte man dazu im militärischen Jargon sagen. Der Ständerat, oder zumindest seine Staatspolitische Kommission, scheint immerhin gewillt, nicht diesen Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Auch der Einsatz von FDP-Nationalrat Andrea Caroni gegen die Pädophilen-Initiative ist ein Hoffnungsschimmer.
Der Kampf gegen den Volksabsolutismus ist schwierig, man riskiert, sich unbeliebt zu machen. Doch «wer nicht bereit ist, dafür Blessuren in Kauf zu nehmen, hat bereits kapituliert», meint Michael Hermann. Und das wäre verheerend, denn letztlich gefährdet die SVP mit ihrer immer radikaleren Auslegung der Volksrechte einen der grössten Trümpfe der Schweiz: Die politische Stabilität.