Das Coronavirus war schneller. Gnadenlos überrollte es die Realität: Im Sommer 2019 gab das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine externe Untersuchung in Auftrag. Experten der Beratungsfirma Bolz und Partner sollten prüfen, wie gut das Epidemiengesetz umgesetzt wird. Dieses liefert den Werkzeugkasten, mit dem die Behörden übertragbare Krankheiten bekämpfen und Krisen bewältigen können. Wie eben Covid-19.
>>> Hier geht's zum Coronavirus-Liveticker.
Die Feldarbeiten der Experten waren weit fortgeschritten, über 30 Fachleute aus Ämtern und der Praxis interviewt, eine Umfrage bei den Kantonsärzten abgeschlossen und Berichte durchforstet – da breitete sich im Frühling die grösste Pandemie seit hundert Jahren aus. Ehe die Lehren aus der Untersuchung gezogen werden konnten, wurde der Kern des Gesetzes einem harten Praxistest unterzogen: Die Krisenbewältigung.
Alles nur für den Papierkorb also? Von wegen. Inzwischen liegen die Ergebnisse der Untersuchung vor. Das BAG hat die Analyse soeben für die Öffentlichkeit freigegeben. Die Erfahrungen aus der Coronakrise sind darin nicht berücksichtigt. Gerade das macht die Analyse aber so wertvoll: Akribisch dokumentiert sie Lücken, die längst bekannt waren. Und beweist damit, wie die Behörden teils sehenden Auges in die Krise geschlittert sind.
Insgesamt ziehen die Experten ein positives Fazit. Das neue Epidemiengesetz – unterdessen seit vier Jahren in Kraft – werde grundsätzlich gut vollzogen und umgesetzt. Mitunter jedoch liest sich die Analyse wie das Protokoll eines angekündigten Fiaskos: Von einem «eigentlichen Vollzugsrückstand» sprechen die Experten bei der Digitalisierung.
Wie sehr das BAG diese vernachlässigt hat, legte erst die Krise schonungslos offen. Zu Beginn der Pandemie mussten Ärzte ihre Coronafälle per Fax ans BAG übermitteln. Die Folge: hohe Papierberge. Im Meldesystem herrschte ein Durcheinander, auch weil für den Austausch sowohl digitale als auch analoge Datenträger eingesetzt wurden.
Zeitweise schaffte es das BAG nicht mehr, die Verbreitung des Virus korrekt zu dokumentieren, wie Recherchen des Onlinemagazins «Republik» bereits im März aufzeigten. Derweil beschwerten sich Forscher über unbrauchbare Daten.
Wer nun den Bericht der Experten liest, darf sich darüber nicht wundern. Im Gegenteil: Selbst die BAG-Beamten waren sich seit vielen Jahren bewusst, dass der übliche Meldeweg via Fax oder Papier und im Regelfall über einen Umweg bei den kantonalen Behörden «nicht ausreichend funktional und effizient» ist. Dass es spätestens in einer Krisensituation zeitraubend sein dürfte, Daten von Papier mühsam in den Computer zu tippen. Gleich sahen es die kantonalen Verantwortlichen und Praktiker. Beinahe einhellig werde das Prozedere als «nicht optimal» und «nicht mehr zeitgemäss» eingestuft, konstatiert die Analyse.
Mit jährlich 70'000 Meldungen zu übertragbaren Krankheiten sei das Amt an Kapazitätsgrenzen gestossen. Auch dies entspricht freilich dem Stand vor der Krise. Zum Vergleich: Aktuell werden allein pro Tag schon mal über 9000 Neuinfektionen mit Corona ausgewiesen; das BAG räumte abermals einen Rückstand beim Erfassen ein.
Wieder und wieder wurde die Digitalisierung auf die lange Bank geschoben. Wie die Analyse enthüllt, dürften entsprechende Probleme noch viel länger bekannt gewesen sein, als bis anhin vermutet – nämlich seit geschlagenen 15 Jahren. Fein säuberlich listen die Experten die verpassten Chancen auf:
Den Rückstand beim Meldewesen halten die Experten für «sehr kritisch». Erst die Labors stellen sukzessive auf elektronische Kanäle um. Das BAG laufe so Gefahr, die Ansprüche von Fachleuten «nicht mehr bedienen zu können» und «als nicht mehr ausreichend kompetent wahrgenommen zu werden»; genau das ist in der Coronakrise passiert.
Auch bei der Frage, wie Daten genutzt und aufbereitet werden, waren Lücken seit langem geläufig. Aus den gemeldeten Daten werde «zu wenig und zu wenig Nützliches gemacht», bemängelten Ärzte, Spitäler und Labore. Oft seien diese für die Wissenschaft kaum nutzbar, auch weil die Qualität mitunter zu wünschen übrig lasse. Das BAG habe «eine zu grosse Distanz zur Akademie», fanden manche gar.
Für die Experten ist klar: Allen voran das digitalisierte Meldewesen sei «dringlich voranzubringen». Gefordert sei jetzt «hohe Managementaufmerksamkeit». Ein ernüchterndes Fazit. Die BAG-Verantwortlichen haben die Digitalisierung des Meldewesens verpasst, ja verschleppt.
Pikant: Geleitet wurde die zuständige Abteilung «Übertragbare Krankheiten» von 2008 bis April dieses Jahres von Daniel Koch. Als «Mister Corona» war er anfänglich das Gesicht im Kampf gegen das Virus. Das BAG hält in einer Stellungnahme zur Analyse fest, man werde den «identifizierten strategischen Handlungsbedarf» erarbeiten.
Brachte Corona endlich den Digitalisierungsschub? Unabhängig von der Krise verfügt das BAG seit April über die Abteilung «Digitale Transformation». Nach dem anfänglichen Chaos setzte das Amt auf Zwischenlösungen, um die Papierbürokratie zu bändigen. Zuerst konnten Ärzte ihre Coronafälle per verschlüsselten E-Mails melden, dann über ein Webformular. Inzwischen, heisst es, kommen nur noch wenige Befunde per Fax.