«Die meisten steigen bis Mitte zwanzig aus. Der dauernde Personalmangel, der Druck: Das macht dich kaputt», sagt die 27-jährige Lara Wüest in der jüngsten Ausgabe der Gewerkschaftszeitung «Work». In der Überschrift zum Artikel heisst es: «Kita-Alarm: Branche steuert auf riesige Probleme zu».
Besorgt zeigt sich auch Kibesuisse, der Verband Kinderbetreuung Schweiz, der am Freitag die Ergebnisse der jüngsten Branchenumfrage publiziert hat. Knapp 1'500 Organisationen haben daran in den Monaten März und April teilgenommen, den grössten Teil machen Kitas aus, gefolgt von Horten in Schulen und Tagesfamilien.
Als grosser Knackpunkt entpuppt sich der Betreuungsschlüssel. Noch im letzten August erklärten «nur» 7 Prozent der Kitas, dass sich zu wenig Betreuende für längere Zeit gleichzeitig um zu viele Kinder kümmern mussten. In diesem Frühling musste bereits jede vierte Kita ihren Betreuungsschlüssel vorübergehend erhöhen. Die zusätzliche Verschlechterung sei «alarmierend», heisst es im Bericht zur aktuellen Umfrage. Denn der Betreuungsschlüssel sei für die pädagogische Qualität mitausschlaggebend und entspreche in der Schweiz sowieso nicht den fachlichen Empfehlungen.
Ein düsteres Bild zeichnet auch die Gewerkschaft VPOD, die letztes Jahr eine Gesundheitsbefragung bei mehr als 700 Kita-Mitarbeitenden durchgeführt hat. Knapp 80 Prozent fühlen sich bei der Arbeit gestresst, knapp die Hälfte leidet an Schlafstörungen, etwa 40 Prozent erwägen einen Jobwechsel. Viele gaben auch zu, wegen der hohen Belastung ungewollt laut und unfreundlich mit den Kindern gewesen zu sein.
Alarm. Alarm. Alarm. Frage an Estelle Thomet, Leiterin Nationales beim Verband Kibesuisse: Können Eltern ihre Kinder morgens noch guten Gewissens im Veloanhänger in die Kita bringen? «Ja, aber», sagt sie. «‹Ja›, weil die meisten Betreuungspersonen trotz allem alles daran setzen, die Kinder möglichst gut zu begleiten. Aber die Eltern sollten sich auch dringend für bessere Rahmenbedingungen einsetzen, um ein Branchen-Burn-out zu verhindern.»
Wenn die familienergänzende Betreuung auch künftig hohen Anforderungen genügen solle, müsse die öffentliche Hand jährlich mindestens rund eine Milliarde Franken mehr investieren. Mit den zusätzlichen Mitteln soll unter anderem der Anteil der qualifizierten Fachkräfte steigen, der Betreuungsschlüssel verbessert, aber auch die Löhne erhöht werden. Gemäss dem Lohnbuch Schweiz verdient eine ausgebildete Kleinkinderzieherin im Durchschnitt knapp 4700 Franken pro Monat, mit Zusatzausbildung gut 5000. Die aktuelle Umfrage von Kibesuisse offenbart derweil weitere Problemfelder:
Man kann den Unmut auch positiv deuten. Er belegt, wie wichtig die familienergänzende Kinderbetreuung für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist. Rund 180’000 bis 200’000 Kinder besuchen in der Schweiz eine Kita. Schliesst diese ihre Tore, geraten arbeitstätige Mütter und Väter in organisatorische Notstände. Nicht von ungefähr gelten die Kitas spätestens seit der Pandemie als «systemrelevant». Und nicht von ungefähr kommt auf politischer Ebene einiges in Bewegung.
Die Bildungskommission des Nationalrats hat letzte Woche ein Gesetz in die Vernehmlassung geschickt mit dem Ziel, die Eltern finanziell zu entlasten. Jährlich 530 Millionen Franken soll der Bund dafür aufwerfen. Pro Kind und pro Tag könnte die Kita bis zu 20 Franken billiger werden. Daneben sollen jährlich 10 Millionen Franken die pädagogische Qualität heben.
Die SP sammelt aktuell Unterschriften für «gute und bezahlbare» Kita-Plätze. Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) und die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren werden voraussichtlich im Herbst neue Empfehlungen herausgeben mit dem Ziel, die Qualität zu heben. Die SODK betont die wichtige Rolle, welche die Kitas bei der Frühförderung der Kinder spielen.
Estelle Thomet von Kibesuisse begrüsst die politischen Aktivitäten im Bereich der familienergänzenden Betreuung, auch die Senkung der Elterntarife. Der aktuelle Vorschlag der Bildungskommission sei aber definitiv nicht ausgereift: «Was bringen günstigere Elterntarife, wenn es die Plätze mangels Personal nicht mehr gibt?»
Nun werde einseitig die Nachfrage angeheizt, anstatt endlich einen substanziellen Teil der längst benötigen Milliarde zur Stärkung des Angebots für die Kita-Qualität zu sprechen. Es brauche nun unbedingt zeitgleich relevante Investitionen in die Qualität: «Die kommt den Kindern zugute und motiviert die Fachpersonen im Job zu bleiben». Viele seien unzufrieden, weil sie ihren Beruf aktuell nicht so ausüben könnten, wie es für das Kindswohl am besten wäre.
Unzufrieden und frustriert, das war auch Kinderbetreuerin Lara Wüest. «Oft war ich alleine mit einer Lernenden und einer Praktikantin zuständig für 16 Kinder!» Immerhin: Nach 10 Jahren Berufserfahrung hat sich ihre Lage entspannt. Sie betreut jetzt Kinder in einer Kita, in der «wir wirklich Zeit haben für die Kinder». Das müsse Normalität werden in der Branche. (aargauerzeitung.ch)