Gewalt gegen Frauen ist in der Schweiz weit verbreitet. Die Zahlen sind erschütternd: Im Bereich der häuslichen Gewalt wurde 2018 ein neuer Höchststand mit 18'522 Straftaten registriert. Alle zwei Wochen starb eine Frau infolge häuslicher Gewalt. Bundesrätin Karin Keller-Sutter schlägt nun vor, bei einem Kontaktverbot nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer überwachungstechnisch auszurüsten. Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt werden, könnten so mittels einem Tracker alarmiert werden, sobald sich der Gefährder nähert. «Das Opfer könnte sich dann entfernen und die Polizei verständigen», sagt die Justizministerin in einem am Freitag erschienenen Interview mit dem «Tages-Anzeiger».
Ein Alarm-Tracker für Gewaltopfer? Pia Allemann, Co-Geschäftsleiterin der Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft (BIF) in Zürich, ist nicht glücklich über den Vorschlag der Bundesrätin. Dieser sei zwar gut gemeint, aber wenig sinnvoll. In Spanien habe man bereits Erfahrungen mit solchen Trackern gesammelt – negative, wie Allemann weiss: «Die Frauen haben es psychisch nicht ertragen, elektronisch und gedanklich ständig mit dem Täter verbunden zu sein.» Viele hätten den Tracker wieder abgelegt, weil er sie in einen ständigen Stress versetzt habe.
Für Opfer von häuslicher Gewalt sei es wichtig, das Geschehene aufzuarbeiten, um dann nach vorne schauen zu können. «Das ist ein psychischer Aspekt, der enorm wichtig ist: Opfer brauchen das Recht zu Vergessen und das Recht auf eine eigene Zukunft», sagt Allemann. Werden sie immer und immer wieder, täglich, stündlich an die Tat erinnert, sei das kontraproduktiv.
Auch bezüglich der Sicherheit hat Allenmann Zweifel. Zu garantieren, dass ein Opfer im Notfall die Polizei verständigt und diese rechtzeitig vor Ort ist, sei illusorisch. «Ein Tracker kann eine erneute Gewalttat nicht verhindern.»
Begrüssenswert findet Allemann, das Bundesgesetz, das ab dem 1. Juli 2020 in Kraft tritt. Es soll den Schutz von gewaltbetroffenen Personen verbessern und gibt den Behörden insbesondere beim Schutz vor häuslicher Gewalt und beim Stalking mehr Handlungsmöglichkeiten. Dazu gehört beispielsweise, dass nicht mehr das Opfer alleine für den Entscheid verantwortlich ist, ob ein Verfahren sistiert wird, sondern die Strafbehörde. Sechs Monate nach einer Sistierung prüft die Staatsanwaltschaft die Situation des Opfers. Hat sich diese nicht verbessert, wird das Verfahren neu aufgenommen.
Agota Lavoyer ist stellvertretende Leiterin und Beraterin bei Lantana, der Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt in Bern. Sie findet es wichtig, dass Politikerinnen und Politiker im Bereich häusliche Gewalt Massnahmen ergreifen. Allerdings werde dabei oft ausser Acht gelassen, dass es tausende Opfer von sexueller Gewalt gibt, die nicht im häuslichen Kontext, also ausserhalb einer Partnerschaft passiert. Die entsprechenden Zahlen sind erschütternd: Laut einer Erhebung von GFS Bern hat jede fünfte Frau schon einmal eine ungewollte sexuelle Handlungen erlebt, mehr als jede zehnte Frau hatte Sex gegen ihren Willen.
Lavoyer stört es, dass in diesem Bereich noch immer zu wenig getan werde. «Die Realität der Sexualdelikte wird total verkannt. Der Grossteil geschieht nämlich ausserhalb der Partnerschaft.» Für sie liegt der Fokus auf der Reform des Sexualstrafrechts. Dies fordert Amnesty International mit einer Petition, die von Strafrechtsexperten unterstützt wird.
Doch der Bundesrat hält eine Reform nicht für angezeigt. Lavoyer kann diese Haltung nicht nachvollziehen: «So viele Frauen in der Schweiz haben sexuelle Gewalt erlebt, die vor Gericht chancenlos sind und der Bundesrat sagt, es gebe beim Sexualstrafrecht kein Handlungsbedarf? Das kann doch nicht sein.»
Sie wünscht sich, dass die Bundesrätin Keller-Sutter und das neu gewählte Parlament den Hebel nicht nur bei der häuslichen Gewalt, sondern auch bei der sexuellen Gewalt ansetzt: «Sex brauch die Zustimmung aller Beteiligten. Und sexuelle Handlungen ohne Einwilligung müssen angemessen bestraft werden können.»
Der Staat versucht zu sparen und schanzt der Überwachungsindustrie viel Geld zu. Geld das für die Betreuung von Opfer und Täter fehlt. Und nur das kann eine Verbesserung bringen. Die paar hundert Fälle müssen doch persönlich begleitet und nicht an ein anonymes System ausgelagert werden