Schweiz
Gesellschaft & Politik

Schweiz: Das Thema staatliche Mindestlöhne beschäftigt die Politik

Weniger Lohn für Coiffeusen und Temporär-Büezer? Kantone blasen zum Aufstand

In Genf und Neuenburg hat das Volk staatliche Mindestlöhne beschlossen. Im Bundeshaus will eine Parlamentsmehrheit diese Entscheide aushebeln. Doch das stösst nun auf heftigen Widerstand – nicht nur bei den zwei betroffenen Westschweizer Kantonen.
20.03.2024, 20:02
Stefan Bühler / ch media
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Am Ende geht es um die Löhne von Coiffeusen, Hotelangestellten, Kellnerinnen, Reinigungskräften und Temporär-Büezern: «Eine Gesetzesänderung würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Rückgang der Löhne in den betreffenden Branchen führen», namentlich im Kanton Genf. So steht es in einem Schreiben des Vorstands der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) vom 8. März.

Information panels for voting are fallen be caused by storm Ciara, in the Old city of Geneva, Switzerland, Monday, February 10, 2020. Severe warnings have been issued for Western and Northern Europe a ...
Egal in welchem Beruf: Die Genfer Bevölkerung sprach sich an der Urne 2020 für einen Mindestlohn aus.Bild: KEYSTONE

Auch die Volkswirtschaftsdirektorenkonferenz (VDK) lässt in einer Stellungnahme zuhanden des Bundesrats kein gutes Haar an der geplanten Gesetzesänderung: «Nebst dem verfassungswidrigen Eingriff in die Kantonsautonomie und der Verletzung des Legalitätsprinzips mangelt es der vorgesehenen Änderung an Praxistauglichkeit.»

Das sind scharfe Reaktionen auf ein Vorhaben, das gemäss seinem Urheber doch nur die «Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen» will: Mit diesem Titel hat Mitte-Ständerat Erich Ettlin im Dezember 2020 seine Motion überschrieben.

Er verlangt, dass vom Bund als verbindlich anerkannte Gesamtarbeitsverträge (GAV) anders lautenden Bestimmungen der Kantone zu Mindestlöhnen vorgehen sollen. «Die Sozialpartnerschaft sichert seit über 100 Jahren den Arbeitsfrieden in der Schweiz und soll das auch die nächsten 100 Jahre tun», begründete Ettlin seinen Vorstoss.

Schutz der Sozialpartnerschaft - und was Ettlin nicht schrieb

Es war eine Reaktion auf Volksentscheide in zwei Westschweizer Kantonen. «Die Einführung des allgemeinen Mindestlohns im Kanton Neuenburg ist eine schwere Belastungsprobe für die bewährte Sozialpartnerschaft in der Schweiz», hielt Ettlin fest. Denn dieser Mindestlohn finde aufgrund eines «umstrittenen Bundesgerichtsurteils» vom August 2017 auch für Betriebe in den Branchen Anwendung, welche einen als allgemeinverbindlich erklärten Landes-Gesamtarbeitsvertrag haben. Dass GAV, die zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern ausgehandelt worden waren, durch kantonale Bestimmungen ausgehebelt werden können, sei «ein Missstand», befand der Obwaldner Ständerat.

Erich Ettlin, Mitte-OW, spricht waehrend der Debatte um den Voranschlag 2024 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2025-2027, waehrend der Wintersession der Eidgenoessischen Raete, am Dienstag, 5. ...
Überzeugte in beiden Kammern des Parlaments eine Mehrheit von seinem Vorstoss: der Obwaldner Mitte-Ständerat Erich Ettlin.Bild: keystone

Damit nicht genug: Im September 2020 stimmte die Stimmbevölkerung des Kantons Genf einer Volksinitiative für einen Mindestlohn zu, der auch für Branchen mit einem GAV gilt. «Weitere Kantone könnten diesen Beispielen folgen», so Ettlins Befürchtung. Deshalb sei gesetzlich festzulegen, dass «die Einigungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, welche der Bundesrat per Beschluss für die ganze Schweiz besiegelt, ausgewählten kantonalen Bestimmungen vorgehen». Das im Interesse der Sozialpartnerschaft, «die durch kantonale Gesetze und internationale Verträge zu erodieren droht».

Was Ettlin nicht schrieb: Die Mindestlöhne in den Kantonen liegen in manchen Branchen höher als die in den GAV vereinbarten Saläre. Für gewisse Branchen - die erwähnten Coiffeure oder Gastro-Firmen in Genf etwa - sind kantonale Mindestlöhne folglich vom Volk verordnete Lohnerhöhungen. Selbstredend stört das die betroffenen Arbeitgeberverbände.

Sie unterstützten deshalb Ettlins Vorstoss - und erlangten sowohl im Ständerat wie auch im Nationalrat eine Mehrheit. Dies notabene gegen den ausdrücklichen Willen des Bundesrats. Dieser räumte zwar ein, dass kantonale Mindestlöhne für die Sozialpartner «eine Herausforderung» darstellen könnten. Gleichwohl sei Ettlins Motion «problematisch»: Sie beschneide die verfassungsrechtliche Kompetenz der Kantone, heble den Volkswillen auf Kantonsebene aus und stehe in Konflikt zu föderalistischen Prinzipien und der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung. Doch der zuständige Bundesrat, Guy Parmelin, drang im Parlament nicht durch und musste deshalb nun eine entsprechende Gesetzesänderung vorschlagen.

Kantone sehen Mindestlöhne als Instrument gegen «Working Poor»

Zu diesem Vorschlag haben die kantonalen Regierungskonferenzen SODK und VDK nun in ungewöhnlicher Schärfe Stellung genommen. Der Vorstand der Sozialdirektorinnen und -direktoren erinnert etwa an die Bedeutung der Mindestlöhne: Sie dienten der Bekämpfung von Armut und insbesondere des Phänomens der «Working Poor». Personen, die einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen, sollten «ein Einkommen erzielen können, das ihnen würdige Lebensbedingungen garantiert, ohne auf Sozialhilfe angewiesen zu sein». In Neuenburg beträgt der aktuelle Mindestlohn 21.09 Franken pro Stunde, in Genf 24.32 Franken. Der Mindestlohn für gelernte Coiffeur-Angestellte gemäss schweizweitem GAV beträgt 21.62 Franken.

Derweil ortet die VDK eine Reihe rechtlicher Mängel: «Ein GAV ist ein zwischen privaten Verbänden abgeschlossener Vertrag, und seine Allgemeinverbindlicherklärung ändert nichts an seinem privatrechtlichen Vertragsstatus.» Er sei einem kantonalen Gesetz untergeordnet. Die Motion Ettlin verstosse daher gegen das in der Bundesverfassung verankerte Prinzip der Legalität, wonach eine untergeordnete Rechtsnorm nicht gegen eine übergeordnete Rechtsnorm verstossen dürfe. Sie stünde zudem im Widerspruch zur «Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen im arbeitsrechtlichen Bereich».

Weiter angeheizt wird die Diskussion in Solothurn: Dort haben SP und Gewerkschaften am Dienstag eine Initiative für einen kantonalen Mindestlohn eingereicht. (aargauerzeitung.ch)

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172 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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sottosopra
20.03.2024 20:08registriert Mai 2018
Hopp SVP, Zeit sich für Büezer in der Schweiz einzusetzen
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Lowend
20.03.2024 20:26registriert Februar 2014
Hier sieht man exemplarisch, dass eben nicht die Gewerkschaften schuld sind, dass bei den Verhandlungen mit der EU keine Einigung über den Lohnschutz zustande kommen, denn in Tat und Wahrheit sind es die bürgerlichen und die reaktionären Parlamentarier, die glauben, die Verhandlungen mit der EU sei die perfekte Gelegenheit, den starken Schweizerischen Lohnschutz zu schleifen und darum torpedieren diese Kreise nicht nur Abstimmungen, die zu mehr Lohnschutz führen, sondern auch alle konstruktiven Vorschläge der Gewerkschaften, wie ein starker Lohnschutz in den Verträgen mit der EU aussehen kann.
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Eat.Sleep.Work.Repeat
20.03.2024 20:21registriert März 2022
Ich hoffe den Betroffenen und potentiel Betroffenen geht ein Licht auf und diese wählen nicht weiter bürgerlich.
Seltsam, dass die Mehrheit der SVP Wähler mit tiefen Einkommen auskommen müssen und dennoch diese Partei wählen.
Es muss etwas geschehen wenn man mit 4500 zu den schlechtbezahltesten 10% der Bevölkerung gehört.
Die Reichen und Grossverdiener sollen mehr abgeben müssen.
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Genervter Grünen-Glättli in der Asyl-«Arena»: «Eine billige Art, Härte zu demonstrieren»
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