Die Mutter kam mit ihrem Kind wegen eines Notfalls ins Kinderspital Zürich. Und dem medizinischen Personal fiel auf, dass sie das Kind stark beschimpfte. Ungewöhnlich, gerade in einer solchen Situation. «Wir sprachen die Mutter darauf an», sagt Myriam Peter, Oberärztin am Kinderspital. «Sie antwortete, sie sei sehr belastet und brauche eigentlich Unterstützung. Da haben wir sie vernetzt mit möglichen Anlaufstellen, damit sie besser mit ihrem Kind umgehen kann.»
Der Fall ist einer von 679 Meldungen von vermuteter Kindesmisshandlung, die letztes Jahr bei der Kinderschutzgruppe und der Opferberatungsstelle des Universitäts-Kinderspitals Zürich eingingen. Während im Jahr davor die körperlichen Misshandlungen zugenommen hatten, nahmen diese nun wieder ab, doch die Meldungen von Vernachlässigungen nahmen zu und machen inzwischen ein Viertel aller Fälle aus. 2017 wurden nur elf Prozent aller gemeldeten Fälle als Vernachlässigungen erfasst.
Myriam Peter hofft, dass die Fälle nicht unbedingt absolut zugenommen haben, sondern dass die Bevölkerung auch eher auf Vernachlässigung und psychische Misshandlungen sensibilisiert ist und deshalb mehr Fälle gemeldet hat. Auch emotionale Vernachlässigung gibt es, wenn beispielsweise ein dreijähriges Kind eine ganze Stunde allein zu Hause gelassen wird. Körperliche Vernachlässigung ist, wenn ein Kind zu wenig Essen erhält; Peter erinnert sich an ein Baby, das jeweils wegen Infektionen ins Spital kam - und dort stets an Gewicht zulegte und später viel dünner wieder kam. «Es hat zu Hause zu wenig Schoppen erhalten», sagt Peter, «weil die Mutter seine Hungerzeichen nicht erkannt hat.» Die Mutter war psychisch krank.
Nicht alle Fälle sind so deutlich. Vernachlässigung ist oft ein Graubereich, sagt Peter, und erst, wenn sie mehrmals vorkommt, ein Kind zum Beispiel regelmässig nicht genug warm angezogen ist, wird es zum Problem. Die Kinderschutzgruppe macht auch längst nicht in jedem Fall eine Gefährdungsmeldung an die Kesb. Von allen Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung waren das letztes Jahr nur 45.
«Wir versuchen den Eltern aufzuzeigen, dass ihr Verhalten dem Kind nicht guttut», sagt die Oberärztin. «Dann schauen wir, was wir weiter machen können.» Meist sei es wie bei der Mutter mit dem unterernährten Kind so, dass sie die Bedürfnisse der Kinder nicht sähen, weil ihre eigenen Probleme gross seien. «Das sind Eltern, die frisch arbeitslos geworden sind, Eltern in Scheidung, oder in heftige Streitigkeiten verstrickt.»
Es sei wichtig, dass Nachbarn oder Grosseltern die Zivilcourage hätten, bei der Kinderschutzgruppe des Spitals anzurufen, denn wenn man nichts tut, drohten später schwere psychische Schädigungen, sagt Peter. Nicht immer bestätigt sich dann der Verdacht: In 123 aller Misshandlungs-Meldungen konnte der Verdacht letztes Jahr nicht erhärtet werden - aber auch nicht ausgeräumt. Dann werden die Kinder und deren Familien entweder mit weiterbetreuenden Stellen vernetzt oder engmaschig nachkontrolliert.
«Wir auf dem Notfall können nach einem einmaligen Besuch meist keine Misshandlung oder Vernachlässigung erkennen. Umso wichtiger sind aufmerksame Kinderärztinnen und -ärzte, aber auch Kita-Betreuerinnen und -betreuer oder eben Nachbarn», so Peter.
In 38 gemeldeten Misshandlungs-Fällen konnte der Verdacht definitiv entkräftet werden: Es stellte sich beispielsweise heraus, dass die Verletzung durch einen Unfall entstanden war. Die Zahl der psychischen Misshandlungen und des sexuellen Missbrauchs ist im letzten Jahr ungefähr gleich geblieben.
Alle Kinderspitäler der Schweiz haben eine Kinderschutzgruppe, an die man sich wenden kann. Jene des Kinderspitals Zürich ist lediglich die bekannteste. (aargauerzeitung.ch)