Anlässlich des Lesbian Visibility Day diese Woche hat die Lesbenorganisation Schweiz (LOS) einen offenen Brief an die Zurich Pride verfasst. Darin beklagen sie, wegen des neuen Punktesystems nicht mit einem Wagen am Demonstrationsumzug teilnehmen zu dürfen. Sie finde den Entscheid fragwürdig, sagt Alessandra Widmer, Co-Leiterin der LOS. «Wir sind die einzige Dachorganisation, die Lesben, Bisexuelle und queere Frauen vertritt. Was ist das für ein Punktesystem, das uns als nicht genügend relevant ansieht?»
Doch Frauen auszuschliessen, habe System und Geschichte, sagt Widmer. «In der queeren Bewegung dominieren schwule Männer.» Eine sexistische Struktur, die neben Frauen auch trans Personen zu spüren bekämen. «Wir müssen ihre Anliegen in dieser Bewegung stets doppelt so laut hervorbringen», so Widmer.
Der offene Brief der LOS hat Wellen geschlagen. Mittlerweile wurde er über 2000 Mal unterzeichnet. Neben Einzelpersonen solidarisieren sich auch Organisationen wie Pink Cross oder das Transgender Network Switzerland. Sogar Prides aus anderen Städten wie Bern, Basel und Genf unterstützen das Anliegen.
Die Zurich Pride zählt zu den grössten queeren Anlässen der Schweiz. Als sie 2019 zum letzten Mal vor der Pandemie regulär stattfand, mobilisierte sie rund 55'000 Menschen. Dieses Jahr wird sie am 17. und 18. Juni 2022 stattfinden. Einige nehmen zu Fuss am Demonstrationsumzug teil, andere auf Fahrzeugen. Wie jedes Jahr sind diese Wagen unter den Organisationen beliebt: Sie bedeuten Sichtbarkeit.
Auch die LOS hat sich um einen der 17 verfügbaren Fahrzeugplätze beworben, jedoch eine Absage vom Organisationskomitee kassiert. Der Grund? «Die LOS hat in einigen Kriterien unseres Punktesystems schlechter abgeschnitten als andere Gruppen und hat damit einen Platz knapp verpasst», sagt Carlos Schönhärl von der Zurich Pride. Unter anderem sei entscheidend gewesen, dass die LOS bereits letztes Jahr einen Wagen hatte.
Den Sexismus-Vorwurf weist der Leiter des Organisationskomitees zurück. «Unser Entscheid hat nichts damit zu tun, dass wir jemanden systematisch unsichtbar machen würden.» Die LOS sei ein wichtiger Teil der Community und er würde es begrüssen, wenn sie dieses Jahr auch an der Pride teilnähme.
Das neue Punktesystem der Zurich Pride kommt dieses Jahr erstmals zur Anwendung. Es soll einer subjektiven Vergabe vorbeugen, die in den letzten Jahren abermals kritisiert wurde. Mit dem Schema sollen die verfügbaren Wagen möglichst fair und transparent unter den Bewerbenden zugeteilt werden. Weniger Punkte erhält, wer bereits einmal ein Fahrzeug haben durfte oder wessen Organisation gewinnorientiert ist. Besser gestellt sind Gruppen, die neu sind oder sich bereit erklären, ein Fahrzeug mit anderen zu teilen.
Welche Rolle Geld bei der Fahrzeugvergabe spielt, war bei der Pride immer wieder Thema. Schönhärl beschwichtigt: «Unsere Kriterien haben nichts mit Geld zu tun. Sie sind komplett vom Sponsoring-Paket getrennt. Man kann sich nicht einkaufen.» Dieses Jahr gehen 13 Plätze an gemeinnützige Organisationen und vier an Unternehmen. Welche das dieses Jahr sind, gibt Schönhärl noch nicht bekannt.
Unabhängig von der Kommerz-Frage: Die Zurich Pride muss sich dieses Jahr bereits zum zweiten Mal scharfe Kritik aus der Community anhören. Im Januar wurde sie für das anfänglich gewählte Motto «Trans Normal» getadelt. Es reproduziere den Gedanken, dass es in der Gesellschaft eine Norm gäbe, in die trans Menschen hineinpassen müssten, so die Kritik. Nach dem lautstarken Aufstand krebste die Zurich Pride zurück und änderte ihr Motto.
Der öffentliche Aufstand der LOS ist der nächste Tolggen im Reinheft der Pride. Irgendwo scheint der Wurm drin zu sein. Der Kopf des Vereins zeigt sich allerdings konstruktiv. «Wie beim diesjährigen Motto, nimmt der Vorstand der Zurich Pride auch diese Kritik sehr ernst, hat sich diese angehört und darüber intensiv diskutiert», sagt Vorstandsmitglied Kevin Burke.
Zur Missbilligung am Punktesystem sagt Burke: «Wir verstehen, dass das neue System so nicht optimal angelegt gewesen ist.» Im Hintergrund fänden bereits Gespräche statt. Für eine Lösung werde aber mehr Zeit benötigt. «Dem Verein ist es wichtig, auch zukünftig zusammen und nicht gegeneinander zu arbeiten.»
Auch bei der LOS will man den Ball flach halten. «Es ist nicht unser Ziel, die Zurich Pride zu boykottieren», sagt Alessandra Widmer. «Wir wollen, dass sie ihr Punktesystem überdenken.» Weiter sei ihr wichtig zu kommunizieren, wie relevant Sichtbarkeit ist: «Lesbisch sein und lesbisch leben wird nicht bloss an der Pride, sondern in der ganzen Gesellschaft zu wenig repräsentiert.» Das soll sich ändern.
Bei der Zurich Pride will man sich nicht festlegen, ob die LOS nun doch einen Wagen erhält. «Es ist noch nichts ausgeschlossen», heisst es.
Hinweis für die Kommentarspalte: Bitte diskutiert sachlich. Homophobe und transphobe Kommentare haben hier keinen Platz.
Ich würde mich eher an der stromlinienförmigen Integration von „Grossbank“ und „Punktesystem“ in so einen Anlass stören. Aber was weiss ich schon….