Sie hat es geschafft, wie erwartet nur knapp, aber immerhin. Die deutsche CDU-Politikerin Ursula von der Leyen wurde am Dienstag in Strassburg zur neuen Präsidentin der EU-Kommission gewählt. Damit endete ein teilweise fragwürdiges Hickhack zwischen dem Parlament und den Staats- und Regierungschefs um den wichtigsten Posten in der Europäischen Union.
Wenn bei der Besetzung der gesamten Kommission alles glatt läuft, wird von der Leyen am 1. November den bisherigen Präsidenten Jean-Claude Juncker ablösen. In der Schweiz werden nicht wenige aufatmen. Für sie war der Luxemburger ein Feindbild, die Personifizierung der harten Linie beim institutionellen Abkommen.
Wird nun alles gut? Kann die Schweiz mit Ursula von der Leyen auf einen besseren Deal hoffen, namentlich in den umstrittenen Punkten Lohnschutz, staatliche Beihilfen und Unionsbürgerrichtlinie? Oder bei der Streitschlichtung und der dynamischen Rechtsübernahme, auf denen die SVP gerne herumreitet? Es gibt mehrere Gründe, die dagegen sprechen.
Die letzten Kommissionspräsidenten waren erklärte Freunde der Schweiz. Der Portugiese José Manuel Barroso hatte in Genf studiert und damals alle Kantone besucht, wie er bei Auftritten hierzulande gerne betonte. Jean-Claude Juncker macht regelmässig Ferien im Tessin und besitzt als Vertreter eines Kleinstaats mit starkem Finanzplatz eine Affinität zur Schweiz.
«In keinen Staats- und Regierungschef eines Drittstaats hat Juncker so viel Zeit und Energie investiert wie in den jeweiligen Schweizer Bundespräsidenten», sagte seine Sprecherin und Vertraute Mina Andreeva letztes Jahr im Gespräch mit watson. Umso grösser ist seine Enttäuschung, dass die Schweiz beim Rahmenabkommen auf Zeit spielt.
Ursula von der Leyen stammt zwar aus einem Nachbarland. Als Norddeutsche besitzt die in Brüssel aufgewachsene Niedersächsin jedoch eine gewisse kulturelle Distanz zur Schweiz. Auch ihr persönliches Verhältnis zu unserem Land scheint durch Indifferenz geprägt zu sein. Es ist kaum zu erwarten, dass sie das Dossier Schweiz wie Juncker zur Chefsache machen wird.
Die Europäische Union besteht nicht aus der Kommission in Brüssel, sondern aus ihren 28 (bald 27) Mitgliedsstaaten. Diese definieren das Verhandlungsmandat mit der Schweiz, an das sich auch Präsidentin von der Leyen wird halten müssen. Trotz Streitigkeiten bei wichtigen Themen wie der Asylpolitik zeigt ihre gemeinsame Front gegenüber der Schweiz bislang keinerlei Risse.
Bei den Nachbarstaaten kann sie auf ein gewisses Verständnis zählen, doch gerade Frankreich fährt eine harte Linie, wie die «NZZ am Sonntag» darlegt. Ausserdem verärgert die Schweiz ausgerechnet die EU-skeptischen Osteuropäer in Polen und Ungarn, weil das Parlament die neue Kohäsionsmilliarde als «Faustpfand» beim Rahmenabkommen zurückhält.
Ursula von der Leyen hat sich in ihrer engagierten, in drei Sprachen gehaltenen Rede vor dem EU-Parlament als «leidenschaftliche Kämpferin» für die EU präsentiert. «Wer Europa schwächen will, findet in mir eine erbitterte Gegnerin», sagte die 60-Jährige. Das verpflichtet, auch im Umgang mit Drittstaaten wie der Schweiz, die am EU-Markt teilnehmen, aber nicht Mitglied werden wollen.
Mit Ursula von der Leyens Wahl wird Martin Selmayr als Generalsekretär der EU-Kommission abtreten. Zwei Deutsche an der Spitze sind einer zu viel. In Brüssel hält sich das Bedauern in Grenzen. Der ehemalige Kabinettschef von Jean-Claude Juncker hatte seinen Job unter fragwürdigen Umständen erhalten. Auch in Bern wird man ihm keine Träne nachweinen.
Der 48-jährige Bayer galt als eine Art «Bad Cop» im Umgang mit der Schweiz. Gerne gab er den Brüssel-Korrespondenten von Schweizer Medien im vertraulichen Gespräch den Tarif durch. Ob es für die Schweiz ohne Selmayr besser wird, darf jedoch bezweifelt werden. Als Nachfolger im Gespräch ist gemäss Medienberichten der Franzose Olivier Guersent.
Er ist bisher Generaldirektor für den Bereich Finanzdienstleistungen und damit zuständig für die Börsenäquivalenz, deren Verweigerung sich Martin Selmayr ausgedacht haben soll. Guersent trug diese harte Haltung mit. Ausserdem habe er sich «hinter den Kulissen wiederholt über die Schweiz ausgelassen», schreiben die Tamedia-Zeitungen. Nicht gerade ideale Voraussetzungen.
Die Europäische Union mag derzeit keinen guten Eindruck hinterlassen. Ihre Grundwerte aber verteidigt sie eisern, auch und gerade nach aussen. Das gilt etwa für die Personenfreizügigkeit. Die Schweiz bekam dies nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative zu spüren. Die EU war zu keinerlei Zugeständnissen beim Freizügigkeitsabkommen bereit.
Die harte Haltung der EU gegenüber der Schweiz wird auch durch den Austritt Grossbritanniens motiviert. So lange dieser nicht geregelt ist, kann sie nicht auf Zugeständnisse hoffen. Ursula von der Leyen erklärte am Dienstag, dass sie aus «guten Gründen», bereit wäre, das Austrittsdatum am 31. Oktober erneut zu verschieben. Am Austrittsvertrag könne aber nicht gerüttelt werden.
Vieles hängt vom mutmasslichen neuen Premierminister Boris Johnson ab. Ist er bereit, einen No-Deal-Brexit durchzuziehen, oder knickt er ein und verschiebt den Austritt? So oder so ist die Lage für die Schweiz ungemütlich. Selbst bei einer gütlichen Scheidung kann sie aus den oben erwähnten Gründen nur bedingt mit einem Entgegenkommen der EU rechnen.
Nur eines ist klar. Diese würdelose Hinterzimmerschieberei hat perfekt demonstriert, wieso wir nicht der EU beitreten sollten.