Dass in Europa Menschen in einem Krieg erschossen werden, hätten sich viele in der westlichen Welt bis vor kurzem nicht vorstellen können. In Europa. So nah. Entsprechend gross ist die Solidarität für die Menschen in der Ukraine. Spendenkonten werden gefüllt. Kleider gesammelt. Die Flüchtenden an der Grenze warmherzig empfangen.
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Das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer ist unbestritten schrecklich und der Einmarsch des russischen Präsidenten Wladimir Putin in einen souveränen Staat ein Verstoss gegen das Völkerrecht. Doch eines scheint derzeit so manch einer zu vergessen: Kriegszustände sind in Europa nichts Neues. Während vieler Jahre haben verschiedene Kriegsparteien auf dem Balkan blutige Kämpfe geliefert. Der letzte, der albanische Aufstand in Mazedonien, fand vor zwanzig Jahren statt.
Umso erstaunlicher sind die Aussagen gleich zweier Bundesrätinnen diese Woche. Am Mittwoch sagte Verteidigungsministerin Viola Amherd in einem Interview mit dem SRF: «Es ist etwas so Gravierendes eingetreten, womit man in dem Ausmass nicht gerechnet hätte. Vielleicht hat man sich bis jetzt zu sicher gefühlt. Wir haben in Europa seit 80 Jahren keine kriegerische Auseinandersetzung.»
Ins gleiche Horn blies Bundesrätin Karin Keller-Sutter in der SRF-Sendung «10 vor 10» am Donnerstag. Sie sagte: «Jetzt haben wir einen Krieg mitten in Europa. Es ist der erste Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg, der alle berührt, der alle sehr besorgt. Es sind Europäer und Europäerinnen, die praktisch Nachbarn sind.»
Zur Erinnerung: Auch Slowenien ist ein Nachbar. Geografisch von der Schweiz aus gesehen sogar ein noch viel näherer als die Ukraine. 1991 will das Land unabhängig werden von der damals Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Die serbisch dominierte Regierung in Belgrad fürchtet den Zerfall Jugoslawiens und schickt Truppen. Doch nach zehn Tagen müssen diese wieder abziehen und die Unabhängigkeit Sloweniens wird ausgerufen.
Auch Kroatien will sich im Sommer 1991 von Jugoslawien lossagen. Dabei kommt es zu einem vier Jahre andauernden Krieg mit serbischen Milizen, die zusammen mit der jugoslawischen Volksarmee gegen Kroaten kämpfen.
In Bosnien wollen währenddessen die bosnischen Kroaten zu Kroatien gehören, die bosnischen Serben zu Serbien und die Bosniaken ein unabhängiges Land haben. Von 1992 bis 1995 wird unerbittlich Krieg geführt. Es kommt zu zahlreichen Grausamkeiten, darunter der Massenmord an 8000 muslimischen Männern in Srebrenica.
Der Rest der Welt schaut dem Kriegstreiben lange Zeit zu. Erst nach einiger Zeit werden Waffenembargos verhängt, Schutzzonen eingerichtet und Blauhelme der UNO entsandt. Während des Kosovokriegs von 1998 bis 1999 bombardiert die Nato die Serben heftig. Dabei sterben auch viele zivile Opfer.
Über 100'000 Menschen kommen im Laufe der Jahre ums Leben. Millionen müssen flüchten. Ihre Häuser, ihre Existenz wird zerstört. Der ehemalige Anführer der bosnischen Serben Radovan Karadžić wird für seine Kriegsverbrechen verurteilt. Der serbische Anführer Slobodan Milošević wird des Völkermordes angeklagt, stirbt aber vor seiner Verurteilung in seiner Gefängniszelle.
Vor diesen historischen Tatsachen scheint die Rhetorik des ersten Krieges in Europa seit 80 Jahren fehl am Platz. Die Aussagen der Bundesrätinnen Amherd und Keller-Sutter seien «etwas merkwürdig», findet Nada Boškovska. Sie ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Natürlich müsse man unterscheiden, dass es sich bei den Kriegen auf dem ehemaligen Gebiet von Jugoslawien um Bürgerkriege gehandelt hat. «Der jetzige Krieg ist eine Invasion einer fremden Macht in ein Nachbarland. Das hat es seit dem Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden tatsächlich nicht mehr gegeben.»
Warum die Jugoslawien-Kriege im westlichen Mindset nun etwas in den Hintergrund rücken, dafür dürfte es verschiedene Erklärungsansätze geben, sagt Boškovska. Einer sei, dass sich der Westen nun sehr geeint und heftig gegen Russland stellt. «Beim Jugoslawien-Krieg herrschte Uneinigkeit und es dauerte im Vergleich lange, bis Sanktionen und andere Massnahmen ergriffen wurden.»
Ein weiterer Punkt sei, dass der Krieg auf dem Balkan sehr kompliziert und schwer nachvollziehbar war. Mehrere Kriegsparteien und viele irreguläre Gruppen waren involviert. Beim gegenwärtigen Krieg sei es viel einfacher: «Es gibt den Aggressor Russland und das Opfer Ukraine.» Zudem sei das Image Russlands schon lange schlecht, während man der Ukraine insbesondere seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 viel Sympathie entgegenbringe.
Eine Rolle spiele wohl auch, dass es in den 1990er-Jahren viele Vorurteile gegenüber den Menschen aus Jugoslawien gab und somit auch gegenüber den Kriegsflüchtlingen. «In der Schweiz lebte bereits vor dem Krieg eine grosse Zahl jugoslawischer Gastarbeiter. Ihr Ruf hatte seit den 1980er-Jahren sehr gelitten», so Boškovska. Vermutlich habe es auch eine Rolle gespielt, dass viele Flüchtlinge aus Bosnien und dem Kosovo Muslime waren und somit eine Bevölkerungsgruppe repräsentierten, die ebenfalls auf weniger Akzeptanz stiess.
In den Bundesratsbehörden zeigten sich mehrere Kaderpersonen irritiert darüber, wie sich der Bund zum Krieg in der Ukraine äussert. Die Kritik ziele etwa gegen die übervorsichtige Wortwahl, wenn Bundesämter oder die Landesregierung selbst lediglich von einer «militärischen Intervention» sprechen.
Amherds Sprecher beschwichtigt, dass die Verteidigungsministerin keineswegs die Balkan-Kriege verharmlosen oder sie mit den «schlimmen Auswirkungen des jetzigen Krieges» vergleichen wollte. Sie habe mit ihrer Aussage sagen wollen, dass es einen militärischen Angriffskrieg «in dieser Grösse und Zielsetzung eines Grossstaates auf einen souveränen Nachbarstaat» seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa nicht mehr gegeben habe.
Das stimmt auch nur, wenn man den Kaukasus und Zypern nicht zu Europa zählt.
Ich finde es ein bisschen dämlich, da zu unterscheiden.