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Klimaurteil: Jetzt spricht Bundesrichter Thomas Stadelmann

Interview

«Es ist absurd»: Erstmals äussert sich ein Bundesrichter zum Klima

Eigentlich sollten die Entscheide des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Leitlinien für das Schweizer Bundesgericht sein. Für Richter Thomas Stadelmann aber ist dieses Verdikt purer «richterlicher Aktivismus».
25.08.2024, 10:1625.08.2024, 10:46
Kari Kälin und Andreas Maurer / ch media
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Bundesrichter Thomas Stadelmann sitzt auf der Gartenterrasse seines Hauses im luzernischen Schötz. Es liegt erhöht auf einem Hügel und bietet deshalb einen Panoramablick über das Dorf und die grüne Landschaft.

Portrait of Swiss federal judge Thomas Stadelmann, taken at the federal court in Lausanne, Switzerland, on February 22, 2015. (KEYSTONE/Gaetan Bally)

Bundesrichter Thomas Stadelmann portraitiert am 2 ...
Er wurde von der Rechtskommission des Ständerats als Experte eingeladen: Bundesrichter Thomas Stadelmann.Bild: KEYSTONE

Normalerweise äussern sich Bundesrichter nur in ihren Urteilen, ansonsten schweigen sie. Warum sind Sie bereit, dieses Interview zu geben?
Thomas Stadelmann: Ich beschäftige mich schon seit einiger Zeit wissenschaftlich mit dem Thema des richterlichen Aktivismus und werde in den nächsten Monaten Beiträge dazu in juristischen Festschriften veröffentlichen. Die Rechtskommission des Ständerats hat mich deshalb als Experte zu einer Anhörung eingeladen, bevor sie eine Stellungnahme zum Urteil abgab.​

Zur Person
Thomas Stadelmann, 66, stammt aus dem Kanton Luzern und absolvierte an der Universität Freiburg das Jurastudium. 2009 wählte ihn das Parlament für die damalige CVP als Bundesrichter. Stadelmann ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge und machte sich einen Namen als Kämpfer für eine unabhängige Justiz.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz verurteilt, weil sie ältere Frauen zu wenig vor den Auswirkungen des Klimawandels schütze. Wie beurteilen Sie dieses Verdikt?
Es ist absurd und handelt sich leider um ein sehr gutes Beispiel für richterlichen Aktivismus.​

Was verstehen Sie unter richterlichem Aktivismus?
Oft handelt es sich um einen politischen Kampfbegriff, um ein Urteil aus irgendeinem Grund zu missbilligen. Ich betrachte das Problem hingegen aus rechtlicher und staatspolitischer Sicht. Richter und Richterinnen müssen Gesetze interpretieren, aber nicht selber Gesetze schaffen.

Aber das Klimaurteil stützt sich auf das Pariser Klimaabkommen.
Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht darin, die Europäische Menschenrechtskonvention zu interpretieren und nicht das Pariser Klimaabkommen anzuwenden. Dieses enthält wenige rechtlich verbindliche Inhalte.

Das Gericht hat jetzt aber für dieses Abkommen eine Klagemöglichkeit geschaffen.
Ja. Aber das war nicht die Absicht der Vertragsparteien des Pariser Abkommens. Der Europäische Gerichtshof hat die Schweiz gerügt, weil sie ihre Reduktionsziele nicht erreiche - obwohl die Reduktionsziele im Abkommen rechtlich nicht verbindlich sind, sondern eine politische Übereinkunft zwischen den Vertragsstaaten darstellen. Sie haben nie vereinbart, das angebliche Verfehlen von Klimaschutzzielen sei ein einklagbares Recht von Einzelpersonen.​

In Ihren Augen hat der Europäische Gerichtshof seine Kompetenzen überschritten. Wie erklären Sie sich das?
Ein wichtiger Grund ist, dass dort viele Menschenrechtler wirken. Sie verfolgen das Ziel, die Menschenrechte weiterzuentwickeln. Sie haben das Gefühl, die Europäische Menschenrechtskonvention könnte sonst verknöchern. Es ist schwierig, Änderungen via Zusatzprotokolle zu erreichen. Also entwickeln die Richter die Konvention als «living instrument» selber weiter. Es liegt aber nicht an einem Gericht, neue Wertungen in Verträge zu lesen, welche die Vertragsparteien nicht abgemacht haben.​

Als die Menschenrechtskonvention nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, konnte niemand ahnen, dass der Klimaschutz in der Zukunft wichtig wird. Wenn die Politik zu wenig dafür unternimmt, muss die Justiz in die Bresche springen.
Für mich ist das kein gangbarer Weg. Es kann nicht die Aufgabe sein von neun Personen – so viele brauchte es für einen Mehrheitsentscheid der grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs –, um ausserhalb der eigenen Kompetenzen Recht zu schaffen. Wir haben in unserem demokratischen Rechtsstaat die Gewaltentrennung. Der Gesetzgeber entscheidet über die Klimapolitik, das Volk kann allenfalls in einem Referendum darüber abstimmen. Es ist nicht Aufgabe der Justiz, diesen Part zu übernehmen.​

Die europäischen Richter sind aber auch demokratisch legitimiert.
Ja, aber um die Menschenrechtskonvention auszulegen, und nicht, um etwas Neues zu erfinden.​

Haben Sie das Vertrauen in den Europäischen Gerichtshof verloren?
Komplett. Ich habe die Mitteilungen zu den neuen Urteilen abonniert. Ich gestehe aber, dass ich sie kaum mehr lese. Manche Urteile mögen im Ergebnis richtig sein. Aber die Begründungen sind oft hanebüchen, weil sie häufig über das hinaus gehen, was die Vertragsstaaten miteinander vereinbart haben. Deshalb kann ich diese Urteile nicht mehr ernst nehmen.​

Die Entscheide sollten eigentlich eine Leitlinie für Ihre Arbeit sein.
Leitlinien müssen logisch begründet sein und auf einer gesetzlichen Basis fussen. Wenn eine Instanz aber Entscheide nach ihrem eigenen Gutdünken erlässt, kann das nicht mehr verbindlich sein.​

Dann sollte die Schweiz die Menschenrechtskonvention kündigen?
Nein. Die Menschenrechte sind sehr wichtig, der Gerichtshof auch. Er müsste sich aber auf seinen Kernauftrag zurückbesinnen: Verletzungen der Menschenrechtskonvention rügen. Es gab auch schon Urteile, welche die Schweiz bei den Menschenrechten vorwärtsgebracht haben, zum Beispiel zu Haftbedingungen.​

Schlagen Sie der Schweiz vor, das Urteil zu ignorieren?
Nein. Das Parlament hat es schon gesagt: Die Schweiz soll mitteilen, dass sie die darin geforderten Anstrengungen für den Klimaschutz bereits unternommen hat.​

Das Ministerkomitee des Europarats überwacht die Umsetzung der Urteile. Kann sich die Schweiz einen Rüffel wegen Nichtbeachtung des Klimaurteils erlauben?
Ja, das wird keine Konsequenzen haben. Im Ministerkomitee sitzen die Aussenminister der Vertragsstaaten. Würden diese die Schweiz anprangern, würden sie sich ins eigene Bein schiessen. Denn die Schweiz ist eines der vertragstreusten Länder und macht überdurchschnittlich viel für den Klimaschutz.​

Wenn die Schweiz Urteile nicht umsetzt, reiht sie sich aber ein in die Riege autoritärer Staaten wie die Türkei, die sich um Urteile foutieren.
Mit diesem Argument zäumen Sie das Pferd von hinten auf. Es ist der Europäische Gerichtshof, der den Fehler gemacht hat. Er hat etwas entschieden, das nicht in seiner Kompetenz liegt. Das muss man sagen können. Ein Beispiel: Der Europäische Gerichtshof hat Grossbritannien mehrfach gerügt, weil verurteilte Gefängnisinsassen dort kein Stimm- und Wahlrecht haben. Nach über zehn Jahren ist der Europäische Gerichtshof zurückgekrebst und hat festgestellt, die Menschenrechtswidrigkeit sei behoben. Dabei war die Gesetzesänderung minimal: Auf Bewährung entlassene Gefangene dürfen wieder wählen.​

Was soll die Schweiz nun tun?
Im Ministerkomitee sollte sich unser Land dafür einsetzen, dass dem Europäischen Gerichtshof endlich Limiten gesetzt werden. Unser Parlament sollte zudem künftig darauf achten, nur noch Personen für das Richteramt zu nominieren, die sich am Vertragsinhalt der Menschenrechtskonvention orientieren und nicht die Menschenrechte weiterentwickeln wollen. Wer dieses Ziel verfolgt, soll an einem Menschenrechtsinstitut oder an einer Universität arbeiten, aber nicht Richter werden.

Der Schweizer Richter Andreas Zünd gehört zur Mehrheit des Gerichts, welche die Schweiz verurteilt hat. Sie kennen ihn von seiner Zeit am Bundesgericht. Halten Sie ihn auch für einen richterlichen Aktivisten?
Ich möchte es so sagen: Ein Richter muss ein Problem ergebnisoffen angehen. Die Mehrheit des Gerichts argumentiert im Klimaurteil aber ergebnisorientiert.​

Sehen Sie diese Tendenz auch in der Schweizer Justiz?
Auch am Bundesgericht macht sich manchmal richterlicher Aktivismus bemerkbar. Ein Beispiel: In einem Urteil zum Freizügigkeitsabkommen hat das Bundesgericht in einer Nebenbemerkung festgehalten, das Parlament könne keine Bestimmung dazu erlassen, die dem Abkommen widerspreche. Denn das Abkommen gehe immer vor. Diese Bemerkung war deplatziert.​

Haben Sie das Vertrauen in die Justiz verloren?
In der Schweiz nicht, weil hier das Parlament immer reagieren und die Gesetzesgrundlagen anpassen kann. Das Problem besteht international. Der Europäische Gerichtshof ist unkontrolliert unterwegs. Er hat kein Korrektiv. Wenn er einfach ein beratendes Organ wäre, das zu aktuellen Fragen Stellung nähme, wäre das kein Problem. Aber er ist ein Gericht.​

Der Gerichtshof will mit seiner Rechtsprechung die Menschenrechtskonvention weiterentwickeln. Ist das nicht gut für die Menschenrechte?
Nein, das schadet ihnen. Der Gerichtshof verliert dadurch seine Stellung als neutrales Gericht, das Gesetze auslegt. Wenn er wie beim Klimaurteil einfach seine politischen Vorstellungen verkündet, untergräbt er damit seine Akzeptanz - auch bei Urteilen, die gut begründet sind.​

Haben Sie noch Hoffnung, dass sich der Europäische Gerichtshof irgendwann wieder auf seine Kernaufgabe zurückbesinnt?
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Nach den ersten Reaktionen muss ich sagen: Der Gerichtshof hat den Schaden, den er angerichtet hat, nicht realisiert.​

Sorgen Sie sich selber nicht auch um das Klima?
Doch. Ich finde auch, dass die Schweiz viel zu wenig dafür macht. Schauen Sie sich hier um. (Er zeigt über die Dächer von Schötz.) Alle und nicht nur einige Häuser sollten Sonnenkollektoren haben. Es gäbe noch so viel zu tun. Die Schweiz macht aber zu wenig.​

Das politische Statement des Klimaurteils an sich finden Sie persönlich also in Ordnung, aber nicht die juristische Herleitung.
Ja, denn es ist nicht die Funktion des Gerichts, politische Statements zu machen. Beim Klimaurteil ging es zudem eigentlich nur um die Frage, ob die Gerichte auf die Beschwerde der Klimaseniorinnen eintreten sollten oder nicht. Das Bundesgericht verneinte dies. Der Gerichtshof hätte diesen Entscheid kippen können und die Sache danach ans Bundesgericht zurückweisen können. Stattdessen erarbeitete er den Sachverhalt selber und bezog inhaltlich Stellung dazu. Das ist völlig daneben.​

Denkt die Mehrheit der Bundesrichterinnen und Bundesrichter so wie Sie?
Viele denken so. Aber als Bundesrichter gehört es nicht zum Rollenverständnis, dass man Entscheide des Europäischen Gerichtshofs öffentlich kommentiert.​

Sie werfen dem Gerichtshof vor, er überschreite seine Kompetenzen. Sie werden sich aber selber den Vorwurf gefallen lassen müssen, mit diesem Interview Ihre Kompetenzen als Bundesrichter überschritten zu haben.
Dieser Vorwurf ist zu erwarten. Ich diskutiere aber mit Ihnen, weil ich mich, wie gesagt, in wissenschaftlichen Beiträgen mit dem Thema befasst habe. Bis jetzt kamen in der Debatte vor allem Experten vor, die das Klimaurteil gelobt haben. Viele von ihnen meinen aber das Ergebnis und übersehen, dass die gesetzlichen Grundlagen dafür fehlen.​

Sehen Sie die Debatte als spannende argumentative Auseinandersetzung? Oder sind Sie persönlich frustriert?
Es frustriert mich, dass so viele, eigentlich gescheite Leute nicht realisieren, wie schädlich das Klimaurteil für unser gesamtes System ist. Seit Jahrzehnten kämpfe ich für richterliche Unabhängigkeit. Erst in den letzten Jahren habe ich aber gemerkt, dass auch richterlicher Aktivismus für den demokratischen Rechtsstaat ein aktuelles Problem ist.​

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306 Kommentare
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Angelino
25.08.2024 10:39registriert Januar 2017
Ich kenne das Bundesgericht und seine Urteile gut. Ich würde mir wünschen, dass jedes Urteil einfach logisch nachvollziehbar wäre, wie der Bundesrichter das meint. Reines Wunschdenken; die politische Haltung der Richter ist schliesslich auch ein wesentliches Wahlkriterium, in der Schweiz, Europa und in den USA.
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NotSweden
25.08.2024 10:47registriert März 2022
Wo richterlicher Aktivismus hinführen kann sieht man leider in den USA.
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Füdlifingerfritz
25.08.2024 10:28registriert März 2018
"Es ist absurd und handelt sich leider um ein sehr gutes Beispiel für richterlichen Aktivismus.​"
Damit ist an sich alles gesagt. Der Entscheid ist und bleibt ein Skandal. Und an alle, die finden, ein bisschen Aktivismus von links sei doch ok, denen möchte ich sagen: aktuell mag das Pendel weit links ausschlagen. Aber stellt euch vor, ein konservativ oder rechts geprägtes Gremium fängt auch an nach Ideologie zu entscheiden und reinen Aktivismus zu betreiben. Ihr wärt die ersten, die - zu Recht - laut aufschreien würden. Deshalb darf mit so etwas gar nicht erst begonnen werden.
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