Derzeit macht ein Selfie eines palästinensischen AP-Kriegsfotografen mit einem Hamas-Führer in den Medien die Runde. Der Journalist hält die Kamera, der Hamas-Führer hat seinen Arm um ihn gelegt und küsst ihn auf die Wange. Können Sie sich vorstellen, wie ein solches Foto zu Stande kommen kann?
Alex Kühni: Ja und nein. Als Kriegsfotograf versuche ich mich möglichst neutral durch das Kriegsgebiet zu bewegen. Doch dabei bin ich immer darauf angewiesen, dass mir die Kriegsparteien Zugang zum Gelände geben. Auch ich habe bei meinem letzten Besuch in Gaza mit Mitgliedern von terroristischen Organisationen wie der Hamas oder dem Islamischen Dschihad gesprochen und sie fotografiert. Man darf nicht vergessen, dass die Hamas Gaza regiert und solche Organisationen dort allgegenwärtig sind.
In the hours following our expose, new material is still coming to light concerning Gazan freelance journalist Hassan Eslaiah whom both AP & CNN used on Oct. 7.
— HonestReporting (@HonestReporting) November 8, 2023
Here he is pictured with Hamas leader and mastermind of the Oct. 7 massacre, Yahya Sinwar. https://t.co/S9pXeIGaFq pic.twitter.com/RmEZU5RsM8
Was müsste passieren, dass Sie ein solches Selfie machen würden? Müsste die Hamas Sie dazu zwingen?
Wir haben sehr wenig Kontext zum Bild. Ich weiss nicht, wie es entstanden ist. Ich kann mir – als Schweizer Kriegsfotograf – aber nicht vorstellen, dass ich jemals so nahe an einen Hamas-Führer kommen könnte, und noch weniger, dass man mich zu einem solchen Selfie zwingen würde. Dafür sind wir Kriegsjournalisten nicht wichtig genug. Ich würde so ein Foto aber auch nie schiessen. Ich bin nicht unterwegs, um mich selbst auf Bildern festzuhalten, sondern um zu zeigen, was Krieg für die davon betroffenen Menschen bedeutet. Auf allen Seiten.
Gemäss dem «Tages-Anzeiger» wirft die NGO «Honest Reporting»* dem palästinensischen Kriegsfotografen vor, er habe im Vorfeld vom Angriff der Hamas am 7. Oktober gewusst. Er sei auffallend schnell am Grenzzaun gewesen, den die Hamas-Kämpfer durchbrachen. Was sagen Sie dazu?
Wenn sich herausstellen würde, dass er gewusst hatte, dass die Hamas geplant hatte, explizit Zivilisten zu töten, hätte er definitiv eine Grenze überschritten. Gegenwärtig wissen wir das aber nicht. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass die Hamas einen Reporter über eine solche Operation informieren würden. Zudem muss man sich bewusst sein, dass der Gazastreifen extrem klein ist. Gerade mal zehn Prozent der Fläche des Kantons Bern. Verständlicherweise ist man dann schnell an dem Ort, an dem etwas passiert.
*Honest Reporting hat sich zum Ziel gesetzt, Medien auf ihre Voreingenommenheit gegenüber Israel zu überwachen. Mehrere (auch westliche) Medien haben der NGO in der Vergangenheit vorgeworfen, legitimierte Kritik an Israel verhindern zu wollen.
Ab wann überschreiten Kriegsreporter eine Grenze? Sie sagten ja, auch Sie hatten in der Vergangenheit direkt mit der Hamas zu tun.
Ich hatte nicht direkt mit der Hamas zu tun, sondern nur über einen lokalen Übersetzer. Die Grenze ist dann überschritten, wenn Kriegsfotografen nicht mehr dokumentieren, sondern partizipieren. Das wäre dann der Fall, hätte sich der AP-Fotograf aktiv am Hamas-Angriff beteiligt, zum Beispiel logistisch oder noch schlimmer: mit einer Waffe. Aber ich weiss natürlich auch ich nicht, was die Wahrheit ist. Ich vertraue darauf, dass AP dieses Thema gut aufarbeiten wird. Das ist extrem wichtig.
Weshalb?
Wenn ein Journalist bei den Terroranschlägen aktiv partizipiert hat, würde das Angriffe auf Journalisten legitimieren. Deswegen ist es wichtig, dass solche Vorwürfe untersucht werden. In jedem Konflikt ist die dritte Partei die öffentliche Meinung. Dafür gibt es kein besseres Beispiel als der Israel-Palästina-Konflikt.
Wird es Sie nun auch in den Gazastreifen ziehen?
Das israelische Militär hat kürzlich angefangen, einige Journalistinnen mit ins Kriegsgebiet zu nehmen. Das ist momentan der einzige Weg für Kriegsjournalisten nach Gaza: über eine offizielle, israelische Bewilligung. Um eine solche Bewilligung bemühe ich mich jetzt, ja. Ich will mir selbst ein Bild von den Kämpfen machen können.
Wie unabhängig können Fotos in diesem Umfeld überhaupt noch sein, wenn Sie das israelische Militär begleiten? Ich nehme an, Sie können sich im Gazastreifen nicht einfach absetzen und durch das Kriegsgebiet spazieren.
Nein, das geht nicht. Es ist viel zu gefährlich. Die Fotos können aber trotzdem unabhängig sein. Klar, Bilder von getöteten Kindern in Gaza helfen der Zustimmung zum Militäreinsatz der israelischen Armee sicher nicht. Das israelische Militär nimmt einem aber nicht plötzlich die Kamera weg oder verbietet es einem, gewisse Fotos zu schiessen. Es gibt nur gewisse Regeln. Beispielsweise, dass ich Fotos von Panzern an einem gewissen Stützpunkt erst einige Stunden oder Tage später veröffentlichen darf, weil die Hamas sonst herausfinden kann, wo sich das israelische Militär gerade aufhält. An solche Regeln halte ich mich selbstverständlich. Ich will den Krieg dokumentieren und ihn nicht beeinflussen.
Sie waren 2019 zum letzten Mal im Gazastreifen. Können Sie erzählen, wie Ihr Kontakt mit der Hamas und Israel damals aussah?
Schon damals brauchte ich eine Bewilligung in Form einer offiziellen Pressekarte von Israel. Mit dieser Bewilligung konnte ich zunächst den israelischen Check-Point am Gazastreifen passieren. Dann lief ich eine Weile im Niemandsland geradeaus, bis ich beim Hamas-Check-Point ankam. Dort musste ich dann palästinensische Einreisepapiere vorweisen sowie einen Kontakt innerhalb des Gazastreifens. In meinem Fall war das mein langjähriger Übersetzer.
Und die Hamas liess Sie dann passieren? Krümmte Ihnen kein Haar?
Ja. Die Hamas war damals die Regierung in Gaza. Ob sie das bleiben kann, wird sich zeigen. Ich konnte damals sogar mit jungen Kämpfern sprechen, die den militärischen Angriff auf Israel trainierten. Das bekommt im Nachhinein natürlich eine ganz neue Dimension.
Worüber haben Sie mit den Kämpfern gesprochen?
Ich weiss nicht mehr genau. Die Gespräche sind für mich meist nur eine Möglichkeit, um näher an die Menschen heranzukommen, um anschliessend möglichst authentische Fotos machen zu können.
Ist das nicht gefährlich?
Mein Beruf ist gefährlich, ja. Aber meist haben Kriegsparteien ja ein Interesse daran, dass über sie berichtet wird. Ich gebe meine eigene Meinung über den Konflikt jedoch nie preis. Ich versuche, an jedes Gespräch so neutral wie möglich heranzugehen. Mein Ziel ist nicht, Partei zu ergreifen, sondern zu verstehen und zu zeigen, was Krieg mit Menschen macht. Und was passieren muss, dass ein Mensch so viel Hass gegen andere Menschen entwickelt, dass er keinerlei Empathie mehr verspürt.
Und was muss passieren?
Es muss vorher sehr viel kaputtgehen. Ich habe enge Freunde auf beiden Seiten des Zauns von Gaza. Ich habe in Israel gelebt und versucht unter anhaltendem Bombenalarm zu schlafen. Stellen Sie sich vor, das jeden Tag, jede Nacht zu erleben! Diese ständige Angst macht etwas mit den Leuten. Und auf der anderen Seite ist die sehr junge Bevölkerung in Gaza, die nur ein Leben in Armut, Krieg und Angst kennt. Jugendliche, die ihre ganze Familie verloren haben. Keine Perspektiven haben. Auch das macht etwas mit ihnen. Am Schluss kommt noch die Propaganda auf beiden Seiten dazu, die diese Angst in Hass umwandelt.
Was aus Ihrer Arbeit im Gazastreifen ist Ihnen bis jetzt am stärksten in Erinnerung geblieben?
Ich war 2019 und 2014 im Gazastreifen. Und beide Male habe ich von Seiten der Hamas den Satz gehört: «Jedes Mal, wenn Israel uns bombardiert, verdoppelt, verdreifacht sich die Zahl unserer Rekruten.» Das zeigt, wie die Spirale der Gewalt diesen Konflikt am Leben erhält. Ich bin darum überhaupt nicht zuversichtlich, dass sich dieser Konflikt in der nächsten Zeit lösen lässt. Dafür bräuchte es sehr viele Jahre des Friedens.
Ja, das sehe ich auch so.