In Israel reissen die Proteste gegen die Justizreform der rechtsreligiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nicht ab. Am letzten Wochenende demonstrierten erneut mehr als 200’000 Personen gegen das umstrittene Vorhaben, mit dem nach Ansicht der Gegner die Justiz und vor allem das Oberste Gericht «ausgeschaltet» werden soll.
Es ist die einzige Institution in Israel, die einen Machtmissbrauch durch die Regierung verhindern kann. Die Gegner befürchten, dass der jüdische Staat in eine «illiberale Demokratie» nach ungarischem Vorbild umgewandelt werden könnte. Mehr als ein Viertel der Israelis erwägt gemäss einer Umfrage, in diesem Fall das Land zu verlassen.
Die Schweiz ist wie Israel eine Demokratie, aber sonst lassen sich die beiden Länder nur schwer miteinander vergleichen. Der Bundesrat ist eine vergleichsweise schwache Regierung, und es gibt ein Arsenal an «Checks and Balances», die verhindern, dass eine Institution zu viel Macht auf sich vereinigen kann. Dazu gehört die direkte Demokratie.
Allerdings bietet sie mit der Volksinitiative ein Instrument zur Beeinflussung der politischen und juristischen Abläufe. In den letzten Jahren hat die SVP gleich zweimal versucht, mit einer Volksinitiative die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu beschneiden. Direkt vergleichen lässt sich das mit der aktuellen Lage in Israel nicht, aber es gibt Parallelen.
So kam es auch in diesen Fällen zu einer teilweise heftigen Gegenreaktion in der Bevölkerung. Sie äusserte sich nicht auf der Strasse, sondern in leidenschaftlich geführten Abstimmungskämpfen. Mit dem schlechteren Ende für die Volkspartei. Doch erst einmal gilt es, ein wenig auszuholen.
In der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts lief es für die SVP rund. Mit der Ausschaffungs- und der Masseneinwanderungs-Initiative errang sie zwei spektakuläre Abstimmungserfolge gegen die übrigen Parteien. Bei den Wahlen 2015 knackte sie beinahe die «magische» 30-Prozent-Marke, und im Dezember holte sie den zweiten Bundesratssitz zurück.
Die SVP entwickelte eine Aura der Unbesiegbarkeit, denn schon einige Wochen danach, am 28. Februar 2016, war der nächste Abstimmungserfolg nahezu programmiert. Es ging um die Durchsetzungs-Initiative, die auf die nach ihrer Ansicht ungenügende Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative abzielte. So hatte das Parlament eine Härtefallklausel beschlossen.
Sie sollte den Gerichten einen Ermessensspielraum bei Ausschaffungen ermöglichen. Was an sich selbstverständlich wäre. In einem Rechtsstaat dürfen Beschuldigte darauf zählen, dass ihr Fall individuell beurteilt wird. Die SVP aber empfand dies als Verletzung des «Volkswillens», der die konsequente Abschiebung «krimineller Ausländer» verlange.
Ausnahmen sollte es nur geben, wenn die Ausschaffung gegen «zwingendes Völkerrecht» verstösst, wobei die SVP dafür eine eigene und ziemlich willkürliche Definition verwendete. Sie wurde vom Parlament für ungültig erklärt, doch trotz rechtsstaatlicher Bedenken deuteten erste Umfragen auf eine deutliche Annahme der Durchsetzungs-Initiative hin.
Unter den Gegner machte sich Defätismus breit. Doch dann geschah etwas, was auch im Rückblick bemerkenswert erscheint. Aus den Reihen der Zivilgesellschaft entwickelte sich ein veritabler Volksaufstand gegen die SVP und für die Verteidigung des Rechtsstaats. Ein Apfeldiebstahl dürfe nicht gleich beurteilt werden wie ein Mord, lautete ein Argument.
Die Parteien hielten sich zurück und liessen Organisationen wie der Operation Libero den Vortritt. Am Ende geschah das scheinbar Undenkbare: Die Durchsetzungs-Initiative wurde mit knapp 60 Prozent Nein abgelehnt. «Es ist uns nicht gelungen, das Apfel-Beispiel zu entkräften», sagte der designierte SVP-Präsident Albert Rösti im Interview mit watson.
Zu diesem Zeitpunkt sammelte seine Partei Unterschriften für eine weitere justizkritische Initiative mit dem Titel «Schweizer Recht statt fremde Richter». Erneut ging es um die Ausschaffung straffällig gewordener Ausländer. Das Bundesgericht hatte entschieden, dass dabei die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) beachtet werden müsse.
Dies versetzte die SVP in Rage, weshalb sie ihr auch Selbstbestimmungs-Initiative genanntes Volksbegehren lancierte. Es verlangte, dass die Bundesverfassung über dem Völkerrecht (ausgenommen «zwingendes») stehen müsse. In diesem Fall mobilisierten die Gegner schon früh. Sie warfen der SVP vor, eine Kündigung der EMRK anzustreben.
Im Abstimmungskampf stritt sie dies ab, doch Röstis Vorgänger Toni Brunner hatte vor der Lancierung in einem Interview damit gedroht. Die Nein-Kampagne hatte nicht die Intensität wie bei der Durchsetzungs-Initiative, dafür war das Ergebnis noch klarer. Zwei Drittel des Stimmvolks und alle Kantone sagten im November 2018 Nein zur Selbstbestimmungs-Initiative.
Von dieser doppelten Klatsche hatte sich die SVP lange nicht erholt. Seither hält sie sich mit Angriffen auf die Unabhängigkeit der Justiz zurück. Ein Vergleich mit Israel ist wie erwähnt schwierig. Die Regierung Netanjahu wird sich hüten, ihre Justizreform zur Abstimmung zu bringen. Aber das Schweizer Vorbild zeigt, was mit beherztem Widerstand möglich ist.
Genau das soll jetzt weg!
Was mir aber gewaltig Sorgen macht: Die permanente Schwächung der 4. Gewalt. Die Zeitungen kämpfen ums Überleben. Unabhängiger Journalismus ist für die Demokratie der Sauerstoff um sich zu entwickeln.