Die Fallzahlen steigen rapide und in den Spitälern liegen respektive sterben wieder vermehrt Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind. Es wiederholt sich, was wir bereits in vorherigen Wellen gesehen und erlebt haben. Für Medizinethiker Mathias Wirth von der Universität Bern ist es deshalb höchste Zeit, eine neue Lösung in Betracht zu ziehen: ein Impfobligatorium.
«Aus ethischer Sicht ist die Impfpflicht momentan die sinnvollste Option», sagt Wirth. Alle anderen Massnahmen seien ausgeschöpft. Medizinische Aufklärung, niederschwelliger Zugang zur Impfung, Zertifikatspflicht, Anreize mit Belohnungen: «All das hat zwar die Impfquote erhöht, aber nicht im notwendigen Ausmass.»
Ein Schreckensszenario verneint er gleich zu Beginn: «Es geht hier nicht darum, dass Leute von der Polizei abgeholt werden und eine Nadel in den Arm gerammt bekommen.» Das Obligatorium solle seiner Ansicht nach mit Geldbussen durchgesetzt werden: Wer also an Orten, wo das Impfobligatorium gilt, keinen Impfnachweis vorweisen könne, müsse zahlen. Er selbst befürworte die allgemeine Impfpflicht. Allerdings sei es einleuchtend, dass ein partielles Obligatorium, beispielsweise für das Medizinpersonal, aus politisch-strategischer Sicht eher konsensfähig wäre.
Dass damit die Freiheit des oder der Einzelnen beschnitten würde, sei für Wirth kein Gegenargument: «Aus ethischer Sicht ist die Einschränkung der individuellen Freiheit durch eine Geldbusse ein wirklich guter Grund, wenn damit im Endeffekt tausende Todesfälle verhindert werden können.»
Ausserdem nähme die Gesellschaft bereits einschneidende Beschränkungen ihrer Freiheit in Kauf, sagt der Theologieprofessor. «Quarantänepflichten, die wir hierzulande als selbstverständlich hinnehmen, sind viel übergriffiger als eine Impfpflicht.»
Wirth fordert, dass die Regierung die Diskussion führen muss und man neu über die Impfpflicht nachdenkt. «Da sehe ich den Staat in der Pflicht.» Leider habe sich die Politik in diesem Thema massiv verfahren: Bevor es überhaupt eine Impfung gab, wurde gesagt, dass eine «Impfpflicht» auf keinen Fall in Frage käme. «Das war ein Fehler. Es kann Situationen geben, wo der Appell alleine nicht reicht und dann braucht es Gesetze», so Medizinethiker Wirth. Und an diesem Punkt seien wir jetzt.
In der Schweiz wäre ein Impfobligatorium rechtlich möglich. Gemäss Epidemiengesetz kann der Bundesrat eine Impfpflicht für «einzelne Personengruppen» einführen, beispielsweise jene, die durch ihren Beruf besonders exponiert sind. Auch Kantone könnten ein Obligatorium bei besonderer Gefahr erlassen, etwa wenn das Gesundheitssystem unmittelbar gefährdet ist.
Im Abstimmungskampf über das Epidemiengesetz 2012 wurde dies jeweils im Zusammenhang mit dem Gesundheitspersonal verstanden – sprich: Wenn ein Kanton oder der Bund die Notwendigkeit für ein Impfobligatorium sähe, dürfte dies nicht die ganze oder einen Teil der Bevölkerung treffen, sondern eben einzelne, klar umschriebene Personengruppen.
Doch was ist mit dem Recht auf körperliche Integrität? Ein Impfobligatorium kann grundsätzlich trotz dieser Garantie eingeführt werden, sagt Staatsrechtlerin Eva Maria Belser. «Der Staat kann unter Umständen rechtfertigen, dass das Interesse an einem Impfobligatorium für bestimmte Personengruppen grösser ist als das individuelle Grundrecht.» Dagegen wäre ein eigentlicher Impfzwang unvereinbar mit dem Recht auf körperliche Integrität, so das Mitglied der wissenschaftlichen Corona-Task-Force.
«In der aktuellen Situation wäre es richtig, ein Impfobligatorium für bestimmte Personengruppen zumindest zu erwägen», sagt Belser. Momentan wachse der Druck auf gewisse Berufsgruppen, sich impfen zu lassen. «Für viele Personen ist im Moment gar nicht richtig klar, ob sie sich impfen lassen müssen oder nicht.» Es gäbe Anreize und auch grossen Druck, zum Teil sogar Angst vor Kündigungen. «Klare Regeln für alle wären besser», so die Rechtsprofessorin. Eine massgeschneiderte, auf das Minimum beschränkte Regelung des Bundesrats würde die Lage verbessern.
Auch die Zahlen sprechen für die Argumente des Medizinethikers: Die Inzidenz steigt und mit ihr die Todesfälle. Das sagte Virginie Masserey am Dienstag vor den Medien. «Wir müssen uns gefasst machen, dass die Inzidenz weiter steigt und eine Überlastung der Intensivstationen droht», so die Leiterin der Sektion Infektionskontrolle beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Auf die Frage von watson, ob der Bund oder ein Kanton ein Impfobligatorium erwäge, sagte Masserey knapp: «Darüber diskutieren wir aktuell nicht.»
Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel (Die Mitte) zweifelt am Vorschlag. «Ich glaube nicht, dass ein Impfobligatorium umsetzbar ist. Wir haben immer gesagt, dass es keines geben wird, jetzt können wir nicht plötzlich mit einem auffahren.» Es bräuchte überdies viel Überzeugungsarbeit und Vertrauen in diese Massnahme, so die Präsidentin der nationalrätlichen Gesundheitskommission. Dass das schwierig werden dürfte, sehe sie an den Reaktionen auf das Covid-19-Gesetz.
Welcher Weg besser wäre, schätzt Humbel folgendermassen ein: «Es müssen wohl andere Lösungen her wie Triagen für Intensivstationen.» Gemeint ist damit der Fall, bei dem das Gesundheitssystem derart am Anschlag ist, dass deshalb aus Kapazitätsgründen über Leben oder Tod entschieden werden muss. Dass ungeimpfte Personen Konsequenzen wie diese tragen müssten, befürwortet Humbel, eine Impfpflicht allerdings nicht.
Vielleicht kommt die Diskussion trotzdem bald auf das politische Tablett. Am Dienstag sagte SVP-Präsident Marco Chiesa in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen, dass er ein Impfobligatorium beim Pflegepersonal befürworte. Er sei zwar gegen eine allgemeine Verpflichtung, aber bei Pflegenden, die mit verletzlichen Menschen zu tun hätten, mache eine solche Regel durchaus Sinn.
Im Ausland sind die Gespräche um ein Impfobligatorium schon in vollem Gange: Die Deutsche Wissenschaftsgruppe «Leopoldina» hat sich vergangene Woche im «Tagesschau»-Beitrag klar für ein Impfobligatorium in bestimmten Berufen ausgesprochen. Die berühmte Wissenschaftlerin und Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim tat es ihnen gleich: Am Sonntag publizierte sie ein Video dazu.
https://t.co/Gus7ckJyRf #maiLab
— Mai Thi Nguyen-Kim (@maithi_nk) November 14, 2021
Auch in Österreich halten Juristinnen und Juristinnen öffentlich Plädoyers für ein Obligatorium und Belgien lässt den Worten bereits Taten folgen: Gemäss Rundfunkberichten hat das Kabinett eine Impfpflicht für das Gesundheitspersonal auf den Weg gebracht.
Was denkst du: Soll es in der Schweiz ein Impfobligatorium geben? Schreib es in die Kommentare.
Klar, sagt der trychelnde Eidgenoss, alles keine echten Demokratien?
Ihr habt auch immer gesagt, dass Masken nichts bringen, Kinder nicht Treiber sind, wir Corona können, usw.
Wenn sich die Bedingungen ändern müssen Aussagen revidiert werden. Das ist die Aufgabe von Politikerinnen und Politiker. Fällt ihnen sonst ja auch nicht schwer...