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Medizinethiker: «Eine Impfpflicht ist momentan die sinnvollste Option»

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Der Medizinethiker Mathias Wirth sagt, eine Quarantänepflicht schneide weitaus mehr in unsere Freiheit ein als ein Impfobligatorium.Bild: watson/keystone/zvg

«Aus ethischer Sicht ist die Impfpflicht momentan die sinnvollste Option»

Die Infektionszahlen und Hospitalisierungen steigen erneut. Zeit, über ein Impfobligatorium nachzudenken, findet der Berner Medizinethiker Mathias Wirth. Rechtlich wäre das machbar, der Stolperstein liegt woanders.
17.11.2021, 10:3018.11.2021, 10:50
Vanessa Hann
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Die Fallzahlen steigen rapide und in den Spitälern liegen respektive sterben wieder vermehrt Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind. Es wiederholt sich, was wir bereits in vorherigen Wellen gesehen und erlebt haben. Für Medizinethiker Mathias Wirth von der Universität Bern ist es deshalb höchste Zeit, eine neue Lösung in Betracht zu ziehen: ein Impfobligatorium.

«Aus ethischer Sicht ist die Impfpflicht momentan die sinnvollste Option», sagt Wirth. Alle anderen Massnahmen seien ausgeschöpft. Medizinische Aufklärung, niederschwelliger Zugang zur Impfung, Zertifikatspflicht, Anreize mit Belohnungen: «All das hat zwar die Impfquote erhöht, aber nicht im notwendigen Ausmass.»

«Es geht hier nicht darum, dass Leute von der Polizei abgeholt werden und eine Nadel in den Arm gerammt bekommen.»
Mathias Wirth, Medizinethiker

Ein Schreckensszenario verneint er gleich zu Beginn: «Es geht hier nicht darum, dass Leute von der Polizei abgeholt werden und eine Nadel in den Arm gerammt bekommen.» Das Obligatorium solle seiner Ansicht nach mit Geldbussen durchgesetzt werden: Wer also an Orten, wo das Impfobligatorium gilt, keinen Impfnachweis vorweisen könne, müsse zahlen. Er selbst befürworte die allgemeine Impfpflicht. Allerdings sei es einleuchtend, dass ein partielles Obligatorium, beispielsweise für das Medizinpersonal, aus politisch-strategischer Sicht eher konsensfähig wäre.

Freiheit wird beschnitten

Dass damit die Freiheit des oder der Einzelnen beschnitten würde, sei für Wirth kein Gegenargument: «Aus ethischer Sicht ist die Einschränkung der individuellen Freiheit durch eine Geldbusse ein wirklich guter Grund, wenn damit im Endeffekt tausende Todesfälle verhindert werden können.»

«Es gibt Situationen, wo der Appell alleine nicht reicht und dann braucht es Gesetze.»
Mathias Wirth, Medizinethiker

Ausserdem nähme die Gesellschaft bereits einschneidende Beschränkungen ihrer Freiheit in Kauf, sagt der Theologieprofessor. «Quarantänepflichten, die wir hierzulande als selbstverständlich hinnehmen, sind viel übergriffiger als eine Impfpflicht.»

Wirth fordert, dass die Regierung die Diskussion führen muss und man neu über die Impfpflicht nachdenkt. «Da sehe ich den Staat in der Pflicht.» Leider habe sich die Politik in diesem Thema massiv verfahren: Bevor es überhaupt eine Impfung gab, wurde gesagt, dass eine «Impfpflicht» auf keinen Fall in Frage käme. «Das war ein Fehler. Es kann Situationen geben, wo der Appell alleine nicht reicht und dann braucht es Gesetze», so Medizinethiker Wirth. Und an diesem Punkt seien wir jetzt.

Bundesrat und Kantone können – wenn sie wollen

In der Schweiz wäre ein Impfobligatorium rechtlich möglich. Gemäss Epidemiengesetz kann der Bundesrat eine Impfpflicht für «einzelne Personengruppen» einführen, beispielsweise jene, die durch ihren Beruf besonders exponiert sind. Auch Kantone könnten ein Obligatorium bei besonderer Gefahr erlassen, etwa wenn das Gesundheitssystem unmittelbar gefährdet ist.

Im Abstimmungskampf über das Epidemiengesetz 2012 wurde dies jeweils im Zusammenhang mit dem Gesundheitspersonal verstanden – sprich: Wenn ein Kanton oder der Bund die Notwendigkeit für ein Impfobligatorium sähe, dürfte dies nicht die ganze oder einen Teil der Bevölkerung treffen, sondern eben einzelne, klar umschriebene Personengruppen.

So unterscheidet sich der Impfzwang vom Obligatorium
Die Begriffe «Impfzwang» und «Impfobligatorium» werden in der momentanen Diskussion häufig als Synonyme füreinander verwendet. Im juristischen Jargon gibt es aber eine klare Differenz: Der Impfzwang kann eine physische «Realdurchsetzung» bedeuten. Das wäre dann das Schreckensszenario mit der Polizei, die einem die Nadel in den Arm rammt. Dafür gibt es in der Schweiz keine rechtliche Grundlage. Mit anderen Worten: Ein staatlicher Impfzwang wird durch die Verfassung verboten. Ein Impfobligatorium wäre allerdings möglich: Das bedeutet, dass mit Busse bestraft werden kann, wer gemäss Obligatorium geimpft sein müsste, aber nicht ist.

Doch was ist mit dem Recht auf körperliche Integrität? Ein Impfobligatorium kann grundsätzlich trotz dieser Garantie eingeführt werden, sagt Staatsrechtlerin Eva Maria Belser. «Der Staat kann unter Umständen rechtfertigen, dass das Interesse an einem Impfobligatorium für bestimmte Personengruppen grösser ist als das individuelle Grundrecht.» Dagegen wäre ein eigentlicher Impfzwang unvereinbar mit dem Recht auf körperliche Integrität, so das Mitglied der wissenschaftlichen Corona-Task-Force.

Staatsrechtlerin nennt weiteren Grund

«In der aktuellen Situation wäre es richtig, ein Impfobligatorium für bestimmte Personengruppen zumindest zu erwägen», sagt Belser. Momentan wachse der Druck auf gewisse Berufsgruppen, sich impfen zu lassen. «Für viele Personen ist im Moment gar nicht richtig klar, ob sie sich impfen lassen müssen oder nicht.» Es gäbe Anreize und auch grossen Druck, zum Teil sogar Angst vor Kündigungen. «Klare Regeln für alle wären besser», so die Rechtsprofessorin. Eine massgeschneiderte, auf das Minimum beschränkte Regelung des Bundesrats würde die Lage verbessern.

Auch die Zahlen sprechen für die Argumente des Medizinethikers: Die Inzidenz steigt und mit ihr die Todesfälle. Das sagte Virginie Masserey am Dienstag vor den Medien. «Wir müssen uns gefasst machen, dass die Inzidenz weiter steigt und eine Überlastung der Intensivstationen droht», so die Leiterin der Sektion Infektionskontrolle beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Auf die Frage von watson, ob der Bund oder ein Kanton ein Impfobligatorium erwäge, sagte Masserey knapp: «Darüber diskutieren wir aktuell nicht.»

Und was sagt die Politik?

Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel (Die Mitte) zweifelt am Vorschlag. «Ich glaube nicht, dass ein Impfobligatorium umsetzbar ist. Wir haben immer gesagt, dass es keines geben wird, jetzt können wir nicht plötzlich mit einem auffahren.» Es bräuchte überdies viel Überzeugungsarbeit und Vertrauen in diese Massnahme, so die Präsidentin der nationalrätlichen Gesundheitskommission. Dass das schwierig werden dürfte, sehe sie an den Reaktionen auf das Covid-19-Gesetz.

Welcher Weg besser wäre, schätzt Humbel folgendermassen ein: «Es müssen wohl andere Lösungen her wie Triagen für Intensivstationen.» Gemeint ist damit der Fall, bei dem das Gesundheitssystem derart am Anschlag ist, dass deshalb aus Kapazitätsgründen über Leben oder Tod entschieden werden muss. Dass ungeimpfte Personen Konsequenzen wie diese tragen müssten, befürwortet Humbel, eine Impfpflicht allerdings nicht.

SVP-Chiesa ist für partielle Impfpflicht

Vielleicht kommt die Diskussion trotzdem bald auf das politische Tablett. Am Dienstag sagte SVP-Präsident Marco Chiesa in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen, dass er ein Impfobligatorium beim Pflegepersonal befürworte. Er sei zwar gegen eine allgemeine Verpflichtung, aber bei Pflegenden, die mit verletzlichen Menschen zu tun hätten, mache eine solche Regel durchaus Sinn.

Im Ausland sind die Gespräche um ein Impfobligatorium schon in vollem Gange: Die Deutsche Wissenschaftsgruppe «Leopoldina» hat sich vergangene Woche im «Tagesschau»-Beitrag klar für ein Impfobligatorium in bestimmten Berufen ausgesprochen. Die berühmte Wissenschaftlerin und Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim tat es ihnen gleich: Am Sonntag publizierte sie ein Video dazu.

Auch in Österreich halten Juristinnen und Juristinnen öffentlich Plädoyers für ein Obligatorium und Belgien lässt den Worten bereits Taten folgen: Gemäss Rundfunkberichten hat das Kabinett eine Impfpflicht für das Gesundheitspersonal auf den Weg gebracht.

Was denkst du: Soll es in der Schweiz ein Impfobligatorium geben? Schreib es in die Kommentare.

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435 Kommentare
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Nordkantonler
17.11.2021 11:02registriert September 2020
Ich finde es erstaunlich, wie viele Leute gerne postulieren, dass eine Impfpflicht in einer Demokratie undenkbar sei. Die meisten europäischen Staaten verpflichteten ihre Einwohner zu einer Impfung gegen die Pocken (BRD bis 1976), Belgien impft verpflichtend gegen Kinderlähmung, die Franzosen erhalten obligatorisch Impfungen gegen Diphtherie, Hepatitis B, Hib, Keuchhusten, Kinderlähmung, Masern, Mumps, Pneumokokken, Röteln, Tetanus und Meningokokken, in Italien sieht es ebenso aus.
Klar, sagt der trychelnde Eidgenoss, alles keine echten Demokratien?
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Nach der Welle ist vor der Welle
17.11.2021 10:58registriert März 2020
"Wir haben immer gesagt, dass es keines geben wird [...]"

Ihr habt auch immer gesagt, dass Masken nichts bringen, Kinder nicht Treiber sind, wir Corona können, usw.

Wenn sich die Bedingungen ändern müssen Aussagen revidiert werden. Das ist die Aufgabe von Politikerinnen und Politiker. Fällt ihnen sonst ja auch nicht schwer...
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Lushchicken
17.11.2021 11:57registriert Oktober 2014
«Es müssen wohl andere Lösungen her wie Triagen.» Und da haben wir es. Und ich kann euch garantieren, dass diese Triagen grösstenteils nicht die Ungeimpften treffen werden. Dann kann das Grosi nach dem Schlaganfall halt nicht auf die IPS 🤷‍♀️
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