Nach 10 Monaten Pandemie ist weltweit ein immergleiches Schema zu beobachten. Es fängt an mit einigen Infektionen, welche sich schnell ausbreiten, und bevor man sich versieht, ist ein Flächenbrand ausgebrochen. Die Politik gibt sich überrascht und muss die Reissleine ziehen: Lockdown.
Es scheint keine andere Optionen zu geben ausser eine die Wirtschaft an die Wand fahrende Stilllegung des öffentlichen Lebens oder die faktische Kapitulation vor dem Virus mit tausenden Toten als Folge. Und so befindet sich halb Europa zurzeit im zweiten oder gar dritten Lockdown, in der Hoffnung, das Virus so überlisten zu können.
Doch dann gibt es da noch Südkorea. Es ist schwer, nicht beeindruckt zu sein von der Art und Weise, wie die Koreaner eine Wahl getroffen haben, keine der oben genannten Optionen zu akzeptieren. Bisher befand sich Südkorea keinen einzigen Tag im Lockdown. Die Regierung rund um Moon Jae-in lehnte diesen Weg bereits früh ab, zu kostspielig sei dieser, ein zu grosser Eingriff in das Leben der Südkoreaner. Das Land entschied sich stattdessen, alle möglichen Ressourcen im Dienste eines einfachen Ziels einzusetzen: Die Gesellschaft am Laufen zu halten. Und zum grössten Teil hat es funktioniert.
Das Leben in Südkorea ist natürlich auch nicht, was es noch vor einem Jahr war. Social Distancing und Maskenpflicht werden praktisch an allen öffentlich zugänglichen Orten durchgesetzt, Gastro- und Kulturbetriebe haben Kapazitätsbeschränkungen und der Schulunterricht erfolgt zum Teil digital. Trotzdem: Baseballstadien sind gefüllt mit Zuschauern, in den Nachtclubs wird getanzt, in den Cafés Kaffee getrunken.
Dabei hat Südkorea eine der tiefsten Infektionsraten weltweit. Und das, obwohl es bereits einige Male gefährlich wurde. Bei mindestens drei Gelegenheiten hat das Land schnell verlaufende Ausbrüche durch aggressives Testen, Hightech-Kontaktverfolgung und obligatorische Quarantäne eingedämmt.
Die südkoreanische Strategie basiert dabei auf einem im Westen befremdlich wirkenden Mass an Überwachung. Die Contact Tracer haben weitaus mehr Möglichkeiten als hierzulande. GPS-Daten von Smartphones werden ausgewertet, Kreditkartenzahlungen überprüft, Überwachungskameras zur Nachverfolgung eingesetzt.
Südkorea ist aber kein autoritärer Staat. Im Gegenteil, es ist wohl die lebendigste Demokratie in Asien. Es gibt eine vielfältige politische Landschaft, die auch religiöse Gruppen miteinschliesst. Es gibt Proteste gegen die Corona-Massnahmen, wie in der Schweiz und anderen westlichen Ländern auch. Nachdem zum Beispiel Kritik am Umgang des Staates mit persönlichen Daten laut wurde, hat man kurzerhand beschlossen, diese öffentlich zu machen. Ein Entscheid, der die Augenbrauen einiger Datenschützer hierzulande in die Höhe schiessen lassen dürfte. Denn wie vorauszusehen war, sind danach private Dienste entstanden, welche die Informationen zusammentragen. Und so ist nun für alle Koreaner öffentlich ersichtlich, in welchem Laden, Restaurant oder Bowlinghalle sich kürzlich infizierte Personen aufhielten. Sehr zum Unmut einiger Geschäftsinhaber.
Trotzdem hat es Südkorea geschafft, ein Äquilibrium zwischen Pandemiebewältigung und Erhaltung des öffentlichen Lebens zu schaffen. Und die Bevölkerung macht mit. Sie ist offensichtlich der Meinung, dass Einsperrungen und ein Herunterfahren des öffentlichen Lebens die weitaus grössere Einmischung in die Freiheit sind, als es gewisse Eingriffe in die Privatsphäre je sein könnten.
In der westlichen Welt scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Die Unantastbarkeit des Individuums ist in Stein gemeisselt. Und doch scheint die Frage unausweichlich, ob dieses Dogma in einer Zeit der Pandemie nicht zum Scheitern verurteilt ist.
Man steht vor einem ethischen Dilemma: Wie weit sind wir bereit zu gehen, um das Coronavirus einzudämmen? Und wären rigorose Contact Tracer, die bei Bedarf jede unserer Bewegungen tracken können, wirklich schlimmer als die Situation, in der wir uns zurzeit befinden?
Um überhaupt einen Vergleich zwischen Südkorea und der Schweiz ziehen zu können, muss man sich in einem ersten Schritt die Differenzen der unterschiedlichen Wertvorstellungen zwischen östlichen und westlichen Kulturen anschauen. In der Schweiz basiert die Menschenwürde sehr stark auf dem Abwehrrecht des Individuums. Die Menschen zu etwas zu zwingen, zum Beispiel zu einer medizinischen Massnahme, ist nur in sehr seltenen Fällen möglich. Solange das Individuum nicht fremdgefährdend ist, darf man sein Abwehrrecht nicht antasten. Das muss in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden.
In östlichen Ländern herrscht ein ganz anderes Wertekonstrukt. Das Individuum ist immer dem grösseren Ganzen unterzuordnen, der Wohlfahrt der gesamten Gesellschaft. Massnahmen, wie ein Tracking der eigenen Bewegungsdaten, welche das Individuum zwar einschränken, der Gesellschaft als Ganzes aber zugutekommen, da so Lockdowns verhindert werden, können also leichter in Kauf genommen werden.
Doch damit ist es nicht getan. Denn mit Einschränkungen, wie sie viele westliche Länder zurzeit haben, übergeht der Staat sehr wohl das Abwehrrecht eines jeden Einzelnen. Einzig die Privatsphäre und der Datenschutz wird aufrechterhalten. Ist dies also die heilige Kuh westlicher, kultureller Errungenschaften?
«Die Staatsmacht hört in der Schweiz bei meiner Haut auf», sagt Ruth Baumann-Hölzle, Mitbegründerin und Leiterin der Stiftung «Dialog Ethik». So dürfe der Staat niemanden gegen seinen Willen am Leben erhalten, gleichzeitig dürfe der Staat nicht töten. «Deswegen gibt es auch keine Todesstrafe bei uns.» Massnahmen wie Lockdowns oder Ausgangsbeschränkungen würden die eigene Haut noch nicht antasten, stellten aber bereits Integritätsverletzungen dar, die demokratisch abgestützt sein müssen. Die Erhebung von persönlichen Gesundheitsdaten ohne Einwilligung wären aber eine massive Integritätsverletzung. «Wie so oft ist es schliesslich eine Frage der Verhältnismässigkeit: Wie hoch ist das Risiko von Corona und rechtfertigt dieses Risiko es, dass der Staat so stark in die Integrität jedes Einzelnen eingreifen darf?»
Für Baumann-Hölzle ist die Eingriffstiefe bei zeitlich befristeten, reversiblen Massnahmen wie einem Lockdown weniger stark als bei der Erhebung von persönlichen Daten ohne Einwilligung, die danach für immer beim Staat wären.
Doch was, wenn man eine Ausweitung des Contact Tracing in den Integritätsbereich von Individuen gesetzlich legitimiert? Sie als eine weitere, zeitlich befristete Massnahme in das Epidemiengesetz aufnimmt, welches bereits die jetzigen Massnahmen demokratisch legitimiert?
«Ich fände diesen Schritt sehr heikel», sagt Baumann-Hölzle. «Für unseren Autonomieanspruch, also den Anspruch auf Freiheit gegenüber dem Staat, haben Generationen vor uns viele Opfer erbracht. Die Frage ist: Wieweit wollen wir gehen und diese Standards demokratisch verbriefter Staaten für die Gesundheit und das Überleben opfern?»
Dabei stelle einen diese Frage nicht vor sich ausschliessende Alternativen. Es gebe nicht nur «Menschenleben retten, Integrität verletzen» auf der einen Seite und «Menschenwürde schützen, Menschenleben opfern» auf der anderen. «Da existiert eine ganze Palette an Abstufungen dazwischen», sagt Baumann-Hölzle. Wieso lief das Contact Tracing bei uns so suboptimal? Könnte man im bestehenden gesetzlichen Rahmen Verbesserungen vornehmen, bevor man zu radikalen Massnahmen greift?
«Wir denken zunehmend in Polaritäten. Entweder das eine Extrem oder das andere. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen machen mir in dieser Pandemie derzeit am meisten Sorgen», sagt Baumann-Hölzle. Das ethische Dilemma zwischen Sicherheit und Freiheit könne nicht einfach aufgelöst werden, man könne nur besser oder schlechter damit umgehen. «Die wahre Kunst ist, aus diesem polaren Denken herauszufinden, wenn wir gerecht handeln und gut leben wollen».
Abseits der ethischen Ebene wäre es theoretisch sehr wohl möglich, Tracing-Massnahmen wie in Südkorea einzuführen. In ausserordentlichen Krisenlagen sind vorübergehende Generaleingriffe in den grundrechtlich garantierten Anspruch auf ein freies und selbstbestimmtes Leben möglich. Mit den Einschränkungen, mit denen wir uns zurzeit konfrontiert sehen, ist dies bereits geschehen.
Adrian Lobsiger, Eidgenössischer Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftrager und damit oberster Datenschützer der Schweiz, hat sich in dieser Pandemie bereits einige Male mit solchen Massnahmen auseinandergesetzt. «Meine Behörde hat sich weder gegen die Ortung von Menschenansammlungen durch die Swisscom und das BAG, noch die Swiss Covid App, noch die Kontaktdatenerfassungen im Rahmen der Schutzkonzepte ausgesprochen.» Er habe lediglich darauf hingewirkt, dass diese Projekte datenschutzkonform ausgestaltet werden.
Doch all diese Massnahmen, die bereits in Kraft sind, verletzen das Abwehrrecht der Individuen nicht, da dadurch keine Personen explizit identifiziert werden können. Sollte es je zur Vorschlägen kommen, die südkoreanische Tracing-Ausmasse haben, ist es Lobsiger vor allem wichtig, dass die politischen Organe das letzte Wort haben. «Bei der Swiss Covid App hatte es das Parlament in der Hand, über deren Freiwilligkeit zu entscheiden. Es hat sich nach einer langen Debatte dafür ausgesprochen. Es hätte auch anders entscheiden können», sagt Lobsiger.
Er würde dabei vor allem dafür einstehen, dass die Vorschläge möglichst Datenschutzkonform umgesetzt werden. Er warnt jedoch: «Tiefgreifende Massnahmen sind auf ein Minimum zu begrenzen, weil sie in einem Spannungsverhältnis zur Verfassung stehen und das Vertrauen in den Rechtsstaat über die Krise hinaus zu schädigen drohen.»
Im hochsterilisierten Beispiel von Südkorea erfülle sich indes auch der Traum von Menschen, die sich nach einem Disneyland des Null-Risikos sehnen, wo weder Kriminalität, noch Unfallrisiken noch Ansteckungsgefahren lauern. Diese Utopie ist für Lobsiger aber trügerisch: «Eine Gesellschaft, die jeden Freiheitsanspruch in Kauf nimmt, wenn sie der Staat vor Verbrechen, Unfällen und Seuchen bewahrt, muss bald die Erfahrung machen, dass die machtverwöhnten Behörden bequem werden.»
Die Beamten müssten sich nicht mehr darum scheren, ob ihre Tätigkeit den optimalen Nutzen erzeuge und bei der duldsamen Bevölkerung auf Akzeptanz stösst. Eigene Fehleinschätzungen und Misserfolge würden unter den Tisch gekehrt.
Die Angst vor solchen Szenarien scheint in der westlichen Gesellschaft gross zu sein. Das lässt sich bereits an der mässigen Nutzung der Swiss Covid App sehen. Die Angst vor einer Pandemie und deren Folgen sind hingegen auch nach fast einem Jahr noch bescheiden. Wahrscheinlich auch, weil wir von SARS, MERS und anderen Infektionskrankheiten verschont wurden.
Doch dieses Unbehagen gegenüber Eingriffen in die Privatsphäre muss respektiert werden. Die Schweiz stellt letztlich nicht den Datenschutz über Menschenleben, sondern den demokratisch politischen Entscheid über alles. Auch wenn das bedeutet, dass wir nie so gut sein werden in der Pandemiebekämpfung wie Südkorea.
Heute wieder Südafrika kommt ins Land jetzt, Brasilien 3 mal, 2 mal London, 4 mal Portugal, 1 mal Manchester UK und natürlich wie immer 4 mal Pristina.
Der Virus kann sich herrlich ausbreiten und alle Varianten sind täglich in der Schweiz willkommen.
Es kann nicht sein, dass Familien mit 3 Kinder nun totalisoliert sind aber Flüge nach Cancun Mexiko täglich stattfinden.
Helft alle mit dass dies so umgesetzt wird wie morgen in UK.