Herr Slapin, das Mitte-Rechts-Bündnis EVP war erneut die grosse Siegerin bei der Europawahl, die Grünen und die Liberalen sind die Verlierer. Hat Sie das überrascht?
Jonathan Slapin: Nein, das wurde schon prognostiziert. Das einzige, was etwas überraschend war, war, dass Mitte rechts und Mitte links doch besser abgeschnitten hatten als erwartet.
In Deutschland sind CDU/CSU mit 30,0 Prozent stärkste Kraft. Die AfD ist mit 15,9 Prozent auf dem zweiten Platz. Wie kam es zu diesem Rechtsrutsch?
Die Europawahlen sind vor allem Wahlen gegen die eigene Regierung oder zumindest eine Möglichkeit für die Wähler, ihre Unzufriedenheit gegenüber der Regierung kundzutun. Das hat man bei diesen Wahlen vor allem im Fall von Deutschland gesehen. Die CDU/CSU und AfD haben schlussendlich davon profitiert, dass sie nicht Teil der Regierung sind – und davon, dass Bundeskanzler Olaf Scholz momentan nicht besonders beliebt ist.
Auch der französische Präsident Emmanuel Macron scheint unbeliebt – die Rechtspopulisten haben die Wahlen gewonnen. Als Reaktion hat Macron nun die französische Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen angekündigt. Ist das ein gefährliches Vorgehen für ihn und seine Partei?
Dieses Vorgehen ist sehr gefährlich für ihn und seine Partei. Es war eine schwere Niederlage für Macron. Er muss darauf hoffen, dass die Wähler nicht auch noch auf nationaler Ebene Marine Le Pens Front National wählen. Doch das könnte durchaus eintreten, denn Macron ist momentan unbeliebt.
Die Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre Partei Fratelli d’Italia haben in Italien gewonnen. Weshalb wollten sich die Italiener nicht gegen die Regierung stellen?
Das könnte eigentlich als Überraschung betrachtet werden, aber es zeichnete sich schon in den Vorhersagen ab. Sie ist eine starke und intelligente Politikerin, das italienische Volk mag sie. Ihr Konkurrent und der stellvertretende Ministerpräsident von Italien, Matteo Salvini, war der Verlierer.
Unter den rechten Parteien der verschiedenen Länder gab es immer wieder Auseinandersetzungen. Wie können sie ihre gemeinsame Stärke nun nutzen?
Die Zusammenarbeit dieser Parteien wird schwierig, denn sie sind sehr unterschiedlich. Bei wichtigen Themen stimmen ihre Positionen nicht überein, wie etwa bei der Ukraine oder bei der Skepsis gegenüber der Europäischen Union. Die rechten Parteien haben einen Wandel durchgemacht und verteilen sich jetzt auf verschiedene Fraktionen – die deutsche AfD ist sogar fraktionslos.
Nicht alle, aber viele dieser rechten Parteien sind europafeindlich. Denken Sie, dass das einstige Erfolgsprojekt Europäische Union gescheitert ist?
Nein, überhaupt nicht. Die Mitte-Parteien sind noch immer die grössten und zusammen mit den Grünen und Liberalen bilden sie eine Mehrheit im Parlament. Und die Wahlbeteiligung ist höher als bisher – das könnte man sogar als einen Sieg für die EU verbuchen. Die Demokratie funktioniert also auf der nationalen Ebene und auch auf der europäischen.
Welchen Einfluss hat diese Neuwahl nun auf den europäischen Grünen Deal und auf das Vorhaben, bis zum Jahr 2050 das Netto-Null-Ziel der Treibhausgasemissionen zu erreichen?
Die Grünen werden fortan weniger Einfluss auf die Europapolitik haben, das ist ein Fakt. Aber auch viele der anderen Parteien wollen, dass die Ziele des Grünen Deals erreicht werden. Diese Ziele verschwinden nicht einfach, aber möglicherweise werden sie nicht mehr so sehr im Fokus stehen wie zuvor.
Aber eine strengere Migrationspolitik könnte in den Fokus rücken, oder?
Ja, das ist durchaus denkbar. Es wird wahrscheinlich mehr Druck von Rechts ausgeübt, sie wollen eine strengere Migrationspolitik. Das könnte bedeuten, dass die Kommission, mit Unterstützung des neuen Parlaments, mehr Geld für Frontex ausgibt oder die Patrouillen im Mittelmeer verstärkt werden. Das sind Geschäfte, die bisher von den Linken abgelehnt und verhindert wurden – diese werden nun breiter im Parlament unterstützt.
Wie wird die Schweizer Politik von dieser Europawahl beeinflusst?
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat gute Chancen, wiedergewählt zu werden. Und wenn auch die Kommission ungefähr so bleibt, wie sie war, dann geht es eigentlich weiter wie gehabt. Aber falls von der Leyen nicht mehr Kommissionspräsidentin sein sollte, dann ist die Zukunft der Verhandlungen und der Abkommen zwischen der Schweiz und der EU ungewiss.
Seine Versuche, den Ukrainekrieg zu verhindern ehren ihn. Schade, dass dies bei vielen Wählern kein Gewicht hat.
Marcon hat verstanden, dass es Reformen braucht. Er hat verstanden, dass sich Europa emanzipieren muss.
Macron hat verstanden, dass die soziale Hängematte keine Lösung ist.
Macron hat gleichzeitig verstanden, dass der Geldadel und die Unternehmen Steuern zahlen müssen.
Schade, einfach schade wenn er gehen muss.