Gerhard Sauder will eine Reise machen. Als sogenanntes Zugkind kam er 1947 aus Deutschland für drei Monate in die Schweiz. Nach dem Zweiten Weltkrieg holte das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) 180'000 kriegsgeschädigte Kinder aus Deutschland, Grossbritannien, Österreich, Ungarn und der Niederlande mit dem Zug zur Erholung in die Schweiz – es war eine der grössten Schweizer Hilfsaktionen im 20. Jahrhundert, und lief mit Unterbrüchen von 1942 bis 1956.
Sauder war eines dieser Kinder. Und jetzt, mit 85, will er die Reise von damals wiederholen. Er ist ehemaliger Professor für Germanistik und sagt, er wisse aus der Rhetorik, dass Erinnerungen sehr viel mit Orten zu tun habe, deshalb sei es sein Wunsch, diese Orte nochmals zu sehen – damit er die Erinnerungen an die Zeit in der Schweiz aufschreiben könne, bevor ihn sein Gedächtnis verlasse, denn: «In all den Kindheitstagen waren diese Tage [in der Schweiz] die glücklichsten meines Lebens».
Und so fährt Sauder von Saarbrücken nach Karlsruhe, wo er aufgewachsen ist. Dort besucht er das Haus, in dem er während des Krieges wohnte, fährt an den Bahnhof und von dort in die Schweiz – genauso wie er es als 9-Jähriger getan hat. Der Dokumentarfilm «Halt im Paradies» begleitet ihn dabei.
Vor Ort, in Zürich, wo Sauder während drei Monaten wohnte, erinnert er sich, wie er in wenigen Tagen «zu einem Zürcher Bub» eingekleidet wurde. Aber auch an die Spaziergänge, die sein Pflegevater nach Feierabend mit ihm zum Zürichsee machte und an das Schiff, das er mit ihm aus Holz baute und später in der Sihl sank. Sauder sagt: «Was ich bei [der Gastfamilie] erfahren habe, hat alles übertroffen.»
Lea Moliterni ist beim SRK Kanton Zürich für Grossspenden und aufgrund ihres Geschichtsstudiums für Historisches zuständig.
Erstmals auseinandergesetzt hat sich Moliterni mit den Zugkindern, als sie eine E-Mail einer ehemaligen Zugbegleiterin erhielt, die damals die Kinder aus dem Ausland in die Schweiz und zurück begleitet hatte. Moliterni schrieb für die Zürcher Rotkreuz Zeitung auf, was ihr diese Frau erzählte, und rief dazu auf, sich zu melden, falls man selbst ein Zugkind war oder eines kannte. Es meldeten sich Hunderte von Menschen bei Moliterni. Das war Anfang 2020.
Moliterni führte 150 Interviews und schlug dem SRK Kanton Zürich einen Dokumentarfilm vor. Dieser ist am Montag online veröffentlicht worden und lässt neben Sauder auch fünf andere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu Wort kommen. Ihre Geschichten sind ein Gewinn für die Gesellschaft – auch wenn ihnen im Film die Ambivalenz fehlt.
Sie alle beschreiben die Schweiz als «Geschenk», als «Himmel(reich)», als «Paradies». Eine Zeitzeugin erinnert sich besonders überschwänglich. Edith Aichinger, heute 84, kam als Zugkind aus Österreich in die Schweiz. Zur Erinnerung, wie sie an der Grenze ärztlich untersucht, entlaust, gewaschen und gekleidet wurde, sagt sie: «Ich kannte keine Dusche bis zu dem Zeitpunkt. Es war so herrlich, unter dieser Dusche zu stehen und das Wasser auf mich herabprasseln zu lassen. Ich habe fast nicht genug bekommen!»
Nach der Untersuchung soll es für alle Kinder einen Kakao gegeben haben. Archivaufnahmen zeigen zahlreiche Zugkinder an langen Tischen, alle mit einem Kakao und einem Brötchen vor sich. Aichinger sagt: «Und das Schönste danach war der erste Kakao meines Lebens! Und ein frisches weisses Semmeli dazu. Ach, war das etwas Herrliches!»
Die sechs Zeitzeuginnen und Zeitzeugen kamen wie alle Zugkinder abgemagert und ausgehungert in der Schweiz an. Aichinger sagt: «Hunger ist sehr, sehr schmerzhaft. Hunger tut weh.»
Die Schweiz war für sie ein Schlaraffenland. Sie sagt: «Ja, [in der Schweiz] hat es so viele schöne Sachen gegeben. Ich habe etwa in der Metzgerei beim Metzger ein Wursträdli und beim Bäcker ein Guetzli bekommen. Ach, es war so herrlich!»
Für Aichinger waren die drei Monate in der Schweiz, nicht nur was ihre Ernährung, sondern auch was ihre Entwicklung anbelangte, ein Erfolg. In der Schweiz habe sie das Lachen gelernt, sagt sie, und sei zum ersten Mal aus sich herausgekommen. Sie sagt: «Meiner Kinderseele hat der Aufenthalt in der Schweiz wahnsinnig gutgetan.»
Im Film steht die Erinnerung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Zentrum, eine (kritische) Einordnung gibt es nicht. Moliterni sagt: «Der Film ist keine historische Aufarbeitung eines historischen Ereignisses und hat auch nicht den Anspruch, es zu sein. Darum bietet er auch keine Einordnung in das zeitgenössische Geschehen, sondern subjektive Erfahrungen.»
Und doch teilt Moliterni im Interview mit watson Informationen, die im Dokumentarfilm für fehlenden Kontext und Kontrast hätten sorgen können. Eine Person wurde zum Beispiel als Kind geschlagen. In der Schweiz zu sein, bedeutete für sie also nicht nur, einer kriegsversehrten Stadt zu entfliehen, sondern auch weg von der gewalttätigen Mutter zu sein. Das erklärt vielleicht, warum sie so gerne an ihre Zeit als Zugkind zurückdenkt, später in die Schweiz gezogen ist und heute noch hier lebt.
Erinnerungen haben die Funktion, rückblickend Sinn zu stiften, und sind darum nie ein akkurates Abbild der Vergangenheit. Sie sind nicht absolut und nie zuverlässig. Das gilt es, beim Umgang mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen unbedingt zu beachten. Ein „gelungenes“ oder zumindest ein zusammenhängendes Leben zu präsentieren, ist nicht nur ein menschliches Bedürfnis, sondern auch eine gesellschaftliche Norm – es sorgt für Stabilität und Stringenz, weswegen wir immer auswählen und auslassen, wenn wir etwas erzählen, oft völlig unbewusst.
Warum und wie etwas erzählt wird, ist darum im Umgang mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ebenso wichtig wie, was erzählt wird. Wenn Edith Aichinger im Film also sagt, dass sie traurig war «ins triste Innsbruck» zurückzukehren, hat das nicht nur damit zu tun, dass in Europa gerade ein Krieg zu Ende gegangen ist und das SRK alles richtig gemacht hat, sondern auch damit, dass Aichinger zu Familienverhältnisse zurückkehren musste, zu denen sie nicht zurück wollte.
Das hätte man in einem Dokumentarfilm vom SRK über das SRK unbedingt erzählen müssen, um Missverständnisse vorzubeugen.
Moliterni sagt: «Es waren die Protagonistinnen und Protagonisten, die entschieden, wann die Kamera lief und wann sie etwas ‹off the record› sagen wollten. Ich bot ihnen eine Art ‹Schutzrahmen› und bewertete ihre subjektive Sicht nicht. Selbst die Tatsache, dass die Erinnerungen subjektiv sind, ordnen wir im Film nicht ein, ausser die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen tun es selbst.»
Aus den eindrücklichen Erzählungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ergeben sich auch andere Fragen – man will mehr wissen. Im Film wird ein Brief vorgelesen, den die Mutter von Gerhard Sauder an ihren Mann in Kriegsgefangenschaft geschrieben hat: «Wir wissen nicht, an welchen Ort und zu welchen Leuten er kommt.»
Laut Moliterni waren es vorwiegend Bauernfamilien, die Zugkinder aufnahmen, denn sie hatten genug Essen und Platz und konnten die Hilfe auf dem Hof gebrauchen. Manche Familien nahmen über die Jahre angeblich mehrere Zugkinder auf, was für ihre Familien in kriegsversehrten Ländern oft eine Erleichterung war – ein Kind weniger zu ernähren.
Dass die Zugkinder auf dem Hof oder im Haushalt helfen mussten, erinnert an die dunkle Vergangenheit der Verdingkinder in der Schweiz, die von Gewalt gezeichnet war. War es für die Zugkinder wirklich so schön, wie es die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Film erzählen? Oder haben sie wie die Verdingkinder in ihren Gastfamilien Gewalt erlebt? Wie repräsentativ sind ihre Erzählungen?
Moliterni sagt: «Zu 99 Prozent haben sich nur Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bei uns gemeldet, die eine positive Erfahrung in der Schweiz gemacht haben. Sie brannten darauf, von ‹ihrer› Geschichte zu erzählen. Wir berichten über keine belastenden Erfahrungen, weil die Zugkinder selbst nichts Negatives erlebt haben oder nicht bereit waren, es vor der Kamera zu erzählen.»
Eine der einzigen Andeutungen von Ambivalenz – und vielleicht von Trauma – findet sich im Film in der Aussage eines Zeitzeugen, der damals aus Österreich in die Schweiz kam. Er erzählt, dass im Bauernhaus, in das er einzog, drei Gewehre in der Ecke standen. Er sagt: «Als ich die gesehen habe, wollte ich gleich wieder umkehren. Das Bild habe ich heute noch in Erinnerung, wie mich das schockiert hat.» Er wurde von seiner Gastmutter getröstet und in den Arm genommen.
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben häufig eine eigene Absicht, wenn sie sich auf ein Interview einlassen – und sei es auch nur, ihre Geschichte (positiv) festzuhalten oder ihr Narrativ zu kontrollieren.
Moliterni sagt: «Wir vermuten – und dies ist eine reine Hypothese – dass Zugkinder, die negative Erlebnisse während ihres Aufenthaltes in der Schweiz hatten, sich schlicht nicht bei uns meldeten, weil sie nicht darüber sprechen wollten oder konnten. Und offiziell dokumentiert wurden solche Fälle offenbar auch nicht, zumindest habe ich in den Archiven nichts gefunden.»
Tatsache ist, dass die Gastfamilien und ihr Umfeld nicht überprüft wurden. Laut Moliterni hat meistens der Pfarrer oder der Lehrer im Dorf für sie gebürgt. Das war es aber auch. Im Archiv fand Moliterni ein Schreiben, in dem eine potenzielle Pflegefamilie mit einem Satz freigegeben wurde: «Es scheint, dass sie in gesitteten Verhältnissen leben.»
Ein anderer Aspekt der Ambivalenz, der im Film touchiert, aber nicht vertieft wird, ist Heimweh. Die meisten Zugkinder waren zwischen vier und zehn Jahre alt, heisst, viele von ihnen wurden kurz vor dem Krieg oder während des Krieges geboren und hatten kaum Bezugspersonen ausserhalb der eigenen Familie, sodass es ihnen schwerfiel, wegzugehen. Viele von ihnen weinten auf dem Weg in die Schweiz, wie sich eine Zeitzeugin im Film erinnert.
Nicht nur den Zugkindern, sondern auch den Eltern fiel die Trennung schwer. Die Mutter von Sauder schrieb im Brief an ihren Mann in Kriegsgefangenschaft: «Hoffentlich hat Gerhard nicht gar so oft Heimweh. Ich muss oft an ihn denken und muss weinen über ihn. Ich sagte zu ihm: Jetzt sind meine zwei Männer fort. Jetzt habe ich keinen mehr. […] Es wird ihm ja guttun, denn oft hat er mir leidgetan, dass ich ihm nicht genug zu essen geben konnte.»
Bevor die Zugkinder in die Schweiz kamen, kannten sie nur Hunger und Zerstörung. Die Empfindung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, dass die Schweiz ein besserer Ort für sie war als der, an dem sie aufgewachsen und während des Krieges ausgeharrt haben, ist damit nachvollziehbar – und legitim.
Die kriegsgeschädigten Kinder haben trotz ihres jungen Alters verstanden, was sie in der Schweiz hatten und – vor allem – was sie davor daheim nicht hatten. Das wird in dem Dokumentarfilm «Halt im Paradies» deutlich.
Aufgrund dieser Erkenntnis haben manche Zugkinder ihren Aufenthalt von drei auf sechs Monate verlängert, sind danach jeden Sommer für mehrere Wochen zurück zu ihren Pflegefamilien in die Schweiz gefahren und haben teils bis ins Erwachsenenleben mit ihnen Kontakt gehalten.
So auch Gerhard Sauder. Er blieb mit den Gasteltern bis zu deren Ableben in engstem Kontakt und verbrachte bis nach dem Gymnasium jeden Sommer in der Schweiz. Später lud er seine leiblichen Eltern nach Zürich ein und machte seine Gasteltern zu Ehrengästen an seiner Hochzeit.
Jede Kinderseele die nach dem Aufenthalt in der Schweiz, wieder Licht und Freude empfinden konnte war ein Gewinn für dessen zukünftiges Leben und Ihren Familien.