131 bestätigte Affenpocken-Fälle gibt es in der Schweiz. Die Zahl verdoppelt sich fast wöchentlich. Wer krank ist, isoliert sich – das haben wir in der Corona-Pandemie gelernt. Präventionsexperte Florian Vock von Aids Schweiz wehrt sich dagegen: Denn Affenpocken sind nur mit Körperkontakt übertragbar. Viel wichtiger sei, dass auch hier die Test gratis würden, um die schnelle Ausbreitung einzudämmen.
Waren Sie dieses Wochenende an einer Hochzeit zweier Männer? Die gleichgeschlechtliche Ehe ist ja seit Anfang Monat in der Schweiz möglich.
Florian Vock: Nein, mein Umfeld ist nicht sehr heiratsfreudig. Wir wollen die gleichen Rechte, aber wir wollen auch sagen können: «ach nein». (schmunzelt)
Egal wo, Affenpocken sind selten ein Gesprächsthema. Ist das in der schwulen Community anders?
Ja. Denn man merkte schon zu Beginn der ersten Fälle in Europa, dass die Ansteckungen vermutlich an Events mit schwulen Männern passierten. Unsere Community ist sehr gesundheitskompetent, wir leben schon lange mit den Risiken von übertragbaren Krankheiten, schon nur wegen HIV. Wir können mit einer neuen Krankheit gut umgehen. Affenpocken sind einfach ein zusätzliches Gesundheitsrisiko. Jetzt muss man auch hier präventiv arbeiten.
Wie sollte die Prävention aussehen?
Man muss die Symptome erkennen und dann auf Körperkontakt verzichten und möglichst rasch testen.
Kann man sich beim Küssen anstecken?
Vermutlich schon. Aber man weiss noch wenig, weil bis jetzt war es eine dieser Krankheiten, die nur arme Menschen in bestimmten afrikanischen Ländern betreffen. Die westliche Welt kümmerte sich nicht darum.
Die Aids-Hilfe Schweiz hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass in Europa nun mehrheitlich die Gruppe der schwulen Männer betroffen ist. Warum?
Ja, in Spanien vermied man zu Beginn den Hinweis, dass die aktuellen Übertragungen der Affenpocken vor allem im Kontext von Körperkontakt in der Gay Community passiert. Wir denken nicht, dass das sinnvoll ist. Denn wenn man ungenau bleibt, schafft man den Nährboden für Stigmatisierung. Wir hatten diesbezüglich aber gute Gespräche mit Journalisten und auch mit dem BAG.
Ist die Gesellschaft einen Schritt weiter? Gibt es weniger Vorurteile und Unwissen gegenüber Homosexuellen?
Unter Fachleuten sicher und auch wie darüber berichtet wird. Bei HIV/Aids sah man, wie viel Leid und Tote verursacht wurden durch die Stigmatisierung in den ersten Jahren. Wenn es aber darum geht, wie viel man nun investieren muss, um die Krankheit einzudämmen, kann es wieder rasch zu Schuldzuweisungen kommen: «Das sind halt die Schwulen mit ihrem Verhalten. Manchmal haben wir sie gern und feiern mit, aber wenn es um Gesundheitsprävention geht, geben wir das Geld nicht.» Oder die Massnahmen werden dann diskriminierend, wenn zum Beispiel nun Schwulensaunas oder Bars und Clubs geschlossen würden. Im Moment sieht es nicht danach aus. Wir werden alles tun, um das zu verhindern.
Mit welchem Argument?
Es ist sinnlos, weil sich die Männer auch anderswo treffen können. Die körperlichen Kontakte werden damit nicht reduziert. Stattdessen würden wir die Leute nicht mehr mit unserer Prävention erreichen.
Gibt es aktuell denn Präventionskampagnen in Saunas und Clubs?
Ja, wir haben Flyer und Plakate, die über die Affenpocken informieren. Wir betreiben aufsuchende Präventionsarbeit - schon seit Jahren bezüglich HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten.
Offenbar ist man erst ansteckend, wenn man auch Symptome hat - das ist ein grosser Unterschied zu Sars-Cov-2.
Das dachte man, allerdings zeigt eine neue Studie, dass es auch asymptomatische Fälle gibt. Ob die auch ansteckend sind, ist nicht bekannt.
Schützen Kondome?
Nein. Wer positiv ist, soll komplett auf Körperkontakt verzichten. Aber wir würden nie generell allen jetzt von Sex, Ferien oder Party abraten. Das wäre nicht verhältnismässig. Bei Chlamydien und Gonorrhoe empfehlen wir auch keinen Sex-Verzicht. Affenpocken sind nicht lebensbedrohlich. Wir machen nur Empfehlungen, die man in einem durchschnittlichen Leben umsetzen kann und glaubwürdig sind. DAs bedeutet also: Man soll bei unspezifischen Symptomen wie Fieber oder geschwollenen Lymphknoten auch an Affenpocken denken und zum Arzt gehen. Das müssen auch Heteros tun.
Affenpocken sind nicht lebensbedrohlich - aber es gibt sehr schmerzhafte Verläufe.
Ja, es gibt sehr schmerzhafte Fälle vor allem wegen geschwollener Lymphknoten und dem Ausschlag, der sich auch entzünden kann. Man kann lange ausser Gefecht gesetzt sein.
Laut dem BAG sollen Patienten sich in einem Zimmer isolieren, bis die Pusteln verheilt sind. Der Kanton Zürich hob diese Empfehlung nun auf. Warum?
Weil die BAG-Empfehlung nicht verhältnismässig ist. Man kann andere Personen auch ohne Isolation gut schützen. Es ist keine Krankheit, die sich über die Luft überträgt. Wenn man mit dem Sitznachbar im Zug nicht spontan knutscht, steckt man ihn auch nicht an. Als zusätzlichen Schutz können Erkrankte Maske tragen und fallen damit im Moment, dank Corona, auch gar nicht auf. Man muss fallbasiert entscheiden und nicht jeden wochenlang einschliessen. Denn wenn die Konsequenzen eines positiven Resultats so krass sind, wird passieren, was wir Präventionsexperten unbedingt verhindern wollen: Die Leute gehen dann nicht mehr testen.
Wie reagieren die Leute auf die Erkrankten?
Die Betroffenen haben Angst vor Stigmatisierung, besonders am Arbeitsplatz. Im Moment ist eine Affenpocken-Diagnose ein faktisches Outing. Wir fordern Ärztinnen und Ärzte auf, diese Aspekte zu berücksichtigen und mit den Betroffenen zu besprechen.
Wie genau?
Das Arbeitszeugnis muss sensibel formuliert sein. Nach einer Diagnose ist man als betroffene Person dem Kantonsarzt ausgeliefert. Wir hoffen, die Kantonsärztinnen sind genügend sensibilisiert. Wir wollen ja möglichst wenige Übertragungen und dafür muss man erreichen, dass sich Leute mit Symptomen auch wirklich an Ärzte wenden.
Hat das Pride-Festival in Zürich zu mehr Ansteckungen geführt?
Man sieht jedenfalls, dass sich die Fälle innert einer Woche verdoppelt haben. Aber das war auch vor der Pride schon so.
Um die Fälle zu entdecken, braucht es Tests. Gibt es genug?
Ja, aber sie sind technisch und administrativ aufwändig. Je nach Franchise müssen Patienten auch selber dafür bezahlen. Dabei wissen wir von Corona: Wenn präventive Tests nicht gratis sind, dann verzichten viele darauf, weil es die Franchise belastet. Gerade jüngere Leute, die nun betroffen sind, weil sie keine Pockenimpfung als Kinder mehr bekamen, haben hohe Franchisen - und oft nicht viel Geld locker für solche Tests. Deshalb unser Aufruf an die Kantone: Übernehmt diese Test-Kosten!
Der Test kostet 150 bis 200 Franken. Folgen die Kantone der Empfehlung?
Selten. Dabei wäre es einfach gespartes Geld: Wenn durch Tests Ansteckungen verhindert werden, spart das Gesundheits-Folgekosten. Das kennen wir ja ebenfalls von der Corona-Pandemie. Und es liegt allein in der Verantwortung der Kantone, nicht des BAG, denn es gibt keine besondere Lage. Wenn wir die Ausbreitung eindämmen wollen, müsste man jetzt Männer aus der besonders betroffene Gruppe sehr breit testen können. Wenn es so wie jetzt weitergeht, kommt schon bald der Moment, wo wir die Affenpocken nicht mehr loswerden. Dann werden auch andere Bevölkerungsgruppen betroffen sein, auch solche, bei denen eine Infektion schwere Folgen haben kann, zum Beispiel schwangere Personen.
Was muss gemacht werden, wenn die Fälle noch mehr steigen?
Die Impfung jenen zur Verfügung stellen, die sie wollen, also der Pockenimpfstoff der 3. Generation. Deutschland impft die betroffene Gruppe bereits - also schwule Männer mit häufig wechselnden Sexualkontakten oder anderen Risikofaktoren.
Würden sich viele impfen lassen?
Ich denke schon. Wir haben Anfragen deswegen und müssen sagen: Wenn du besonders exponiert bist und im Ausland Zugang hast, mach die Impfung dort. Es ist haarsträubend, dass wir so kommunizieren müssen.
Das BAG sagt, die Beschaffung und Vergütung der Impfung sei in Abklärung und die Impfkommission daran eine Empfehlung auszuarbeiten.
Wir müssten die Impfstoffe jetzt haben, wenn sie präventiv wirken sollten. Dann müssten wir auch noch nicht so viele Leute impfen. Der Bund muss die Impfstoffe beschaffen. Auch Medikamente gegen schwere Verläufe sind in der Schweiz nicht erhältlich.
Wann ändert sich das?
Gute Frage. Hier landen wir wieder bei der Ausgangsfrage nach der Stigmatisierung. Wir haben zwar bereits eine betroffene Gruppe, rasant steigende Fallzahlen, aber vielleicht geschieht doch erst etwas, wenn die erste schwangere Frau erkrankt ist. Ist bis jetzt mit den Schwulen jetzt die falsche Gruppe betroffen? Wir müssten jetzt handeln, sonst ist der Zug bald abgefahren. (bzbasel.ch)