Gemäss dem neusten Antisemitismus-Bericht gab es 2023 eine beispiellose Welle von antisemitischen Vorfällen. Was ist geschehen?
Ralph Lewin: Der Terroranschlag der Hamas auf Israel und die darauffolgende kriegerische Auseinandersetzung im Nahen Osten haben als enorm starke Trigger gewirkt. Während die antisemitischen Vorfälle zwischen Januar und September in etwa auf dem Niveau der Vorjahre lagen, stieg deren Zahl nach dem 7. Oktober steil an – gerade auch bei schwerwiegenderen Vorfällen wie etwa Tätlichkeiten. Das hat uns schon vor der Messerattacke von Zürich vom vorletzten Wochenende grosse Sorgen gemacht.
Warum befeuert der aktuelle Konflikt im Nahen Osten den Antisemitismus in der Schweiz so stark?
Auch bei früheren Angriffen der Hamas auf Israel, vor allem durch Raketenbeschuss, hat Israel militärisch reagiert. Diese Auseinandersetzungen wirkten ebenfalls als Trigger für Antisemitismus. Allerdings waren sie zeitlich oft begrenzt. Nun liegen die schrecklichen Massaker der Hamas schon fünf Monate zurück und die kriegerische Auseinandersetzung dauert weiter an. Die Hamas hat mit ihrem Terrorangriff diesen Krieg ausgelöst. Das wird heute oft unterschlagen. Leider gibt es in diesem Krieg viele zivile Opfer unter der palästinensischen Bevölkerung. Diese Bilder lassen auch uns nicht unberührt.
Also steckt hinter der Zunahme der antisemitischen Vorfälle Mitgefühl mit den palästinensischen Opfern?
Nein, und das zeigt unser Bericht eindrücklich. Erstens: Bereits in den Tagen nach dem Hamas-Angriff begann diese Welle von antisemitischen Vorfällen. Also zu einem Zeitpunkt, als die militärische Reaktion Israels noch nicht erfolgt ist. Zweitens: Seit dem 7. Oktober haben nicht nur Vorfälle von israelbezogenem Antisemitismus stark zugenommen, auch wenn hier der Anstieg am deutlichsten war. Wir erleben auch mehr Vorfälle von allgemeinem Antisemitismus, die sich nicht auf das Vorgehen Israels im Gazastreifen beziehen. Aber selbst dann geht es nicht an, Juden hier für die Situation in Israel verantwortlich zu machen. Leider ist damit eine Entwicklung eingetreten, die ich bereits unmittelbar nach dem 7. Oktober vorausgesagt habe.
Welche Entwicklung?
Der Terror der Hamas und dessen Opfer sind sehr schnell in Vergessenheit geraten oder zumindest in den Hintergrund getreten. Schon wenige Tage nach den Massakern lag der Fokus auf der Lage im Gazastreifen. Die Strategie der Hamas, Kämpfer und militärische Infrastruktur bewusst mitten in der Zivilbevölkerung zu verstecken, wird oft ausgeblendet. Häufig zu hören war hingegen der Vorwurf, Israel begehe im Gazastreifen einen «Genozid», was die Stimmung enorm angeheizt hat. Letztlich ist dieser Konflikt für viele Antisemiten ein Anlass, ihre vorhandenen judenfeindlichen Einstellungen zum Ausdruck zu bringen – und sich an Jüdinnen und Juden abzureagieren.
Unmittelbar nach dem 7. Oktober sprach sich der SIG gegen die Bewilligung von propalästinensischen Demonstrationen aus. Wie verträgt sich das mit der Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit?
Wir haben den Entscheid von städtischen und kantonalen Sicherheitsbehörden begrüsst, in den Wochen nach der Attacke keine Demonstrationen zu bewilligen – das betraf ja Städte mit jüdischen Einrichtungen. Zu diesem Zeitpunkt war die Sicherheitslage äusserst angespannt. Aber wir legen grossen Wert auf das Demonstrationsrecht und die Meinungsäusserungsfreiheit. Legitime Kritik an Israel und seiner Regierung ist kein Antisemitismus, das betrachten wir sehr differenziert.
Trotzdem gibt es auf Demonstrationen immer wieder antisemitische Schilder oder Sprechchöre.
Im Strafgesetzbuch gibt es eine Antirassismus-Strafnorm. Diese gilt auch bei Demonstrationen. Wir haben die Erwartung, dass die Behörden eingreifen und eindeutig antisemitische Plakate oder Sprechchöre unterbinden und verfolgen.
Die Demonstrationen für die palästinensische Seite haben viel mehr Leute auf die Strasse gelockt als Solidaritätskundgebungen für Israel oder Mahnwachen gegen Antisemitismus. Was löst das bei Ihnen aus?
Ich war auch an diesen Mahnwachen und habe feststellen müssen: Im Vergleich zu den propalästinensischen Demos sind hier viel weniger Leute anwesend. Man merkt dann: Wir haben nicht so viele Freunde. Das beschäftigt mich und viele andere Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft schon. Wir wünschen uns, mehr Menschen würden gegen Antisemitismus einstehen. Ich rätsle manchmal, weshalb etwa Baschar al-Assads Krieg gegen die syrische Zivilbevölkerung so viel weniger Menschen auf die Strasse getrieben hat als die militärische Reaktion Israels auf den Hamas-Terrorismus.
Wie erklären Sie sich das?
Das ist eine schwierige Frage. Schauen Sie: Mit der aktuellen israelischen Regierung und ihrer Politik hadern viele hierzulande, auch in der jüdischen Gemeinschaft. Aber bei aller berechtigten Kritik an dieser Regierung: In gewissen Kreisen, gerade an den Universitäten, hat sich eine völlig vergiftete Sicht auf Israel herausgebildet. Das Land wird dort in Unkenntnis der Entstehungsgeschichte als rassistisches, kolonialistisches Projekt betrachtet. Sein Existenzrecht als jüdischer Staat, der nach dem Holocaust mit Zustimmung der UNO entstanden ist, wird in Frage gestellt.
Nach einem Parlamentsbeschluss erhalten jüdische Einrichtungen 2024 mit rund 4,5 Millionen Franken doppelt so viele Mittel für Schutzmassnahmen wie zuvor. Wie wirkt sich das aus?
Die Sicherheit von jüdischen Einrichtungen und ihrer Besucherinnen und Besucher ist nicht verhandelbar. Die notwendigen Sicherheitsmassnahmen mussten die jüdischen Gemeinden deshalb ergreifen, auch wenn ihnen die Mittel dazu eigentlich fehlten. Sie mussten das Geld zum Teil bei ihren Kernaufgaben einsparen, wie Religionsausübung oder kulturellen Veranstaltungen. Obwohl der Schutz all seiner Bürger eine Kernaufgabe des Staates ist, mussten wir jahrelang für mehr Unterstützung kämpfen. Nun steht im laufenden Jahr endlich genügend Geld für alle eingereichten Gesuche zur Verfügung. Das ist eine grosse Erleichterung.
Wo besteht noch politischer Handlungsbedarf?
Wir begrüssen den Entscheid des Nationalrats von letzter Woche für eine nationale Strategie gegen Antisemitismus. Davon darf man sich keine Wunder versprechen, aber es ist ein wichtiges Zeichen der Anerkennung: Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und nicht ein Problem der jüdischen Gemeinschaft. Jetzt müssen Bund und Kantone mehr eigene Anstrengungen zur Erfassung und Bekämpfung von Antisemitismus leisten und bestehende Projekte aus der Zivilgesellschaft, etwa für die Schulen, stärker unterstützen. Wichtig sind auch bessere juristische Mittel gegen Hassrede im Netz und in sozialen Medien. Zudem hoffen wir, dass es im Parlament rasch vorwärtsgeht mit dem Hamas-Verbot und dem Verbot von Nazi-Symbolen.
Ich finde aber das die antisemiten karte oft gespielt wird um sich aus der affäre zu ziehen. Was hat kritik an Israel (dem staat) mit antisemitismus zu tin? Genau! Rein garnichts! Und es gibt unzählige jüdische Bürger die den zionismus ablehnen. Schaut etwas nach den Protesten in Israel
Unabhängig davon wie man den Konflikt im nahen Osten bewertet haben Juden in der Schweiz nichts damit zu tun.