Die Reformation stellte eine Zeitenwende dar. Wer ist bedeutender,
Luther oder Zwingli?
Verena
Mühlethaler: Keiner von beiden, sondern Calvin. Sein Einfluss
reichte bis Schottland, die Niederlande und die USA. Aus globaler
Sicht hat er die grösste Bedeutung.
Welche Bedeutung
hat das Reformationsjubiläum für Sie?
Ich habe ein Buch
über Zwingli gelesen und einige interessante Dinge erfahren. Sie
widersprechen seinem Image als Puritaner, der die Musik aus dem
Gottesdienst verbannt hat. Zwingli war sehr musikalisch, er hat über zehn Instrumente gespielt. Er war ein sinnlicher Mensch, der
gerne gegessen hat. Spannend ist auch seine Vorstellung zum
Verhältnis von Kirche und Staat. Er unterscheidet zwischen der
göttlichen und der menschlichen Gerechtigkeit. Diese müsse sich
jedoch immer an der göttlichen ausrichten. Daraus ergibt sich das
prophetische Wächteramt der Kirche, an dem wir anknüpfen.
Das müssen Sie
genauer erklären.
Für
Zwingli war klar, dass wir als Bürgerinnen und Bürger dem Staat folgen müssen.
Wenn jedoch Recht zu Unrecht wird oder der Staat seine Macht
missbraucht, müssen wir als Repräsentanten der Kirche unsere
Stimme erheben und uns an der politischen Debatte beteiligen. Wir
versuchen in unserer Kirche immer wieder, uns darauf zu berufen,
insbesondere in der Migrationspolitik.
Sie haben einiges
gemeinsam mit Zwingli. Sie stammen aus dem Toggenburg und haben Ihre
Wirkungsstätte in Zürich ...
... aber nicht am
Grossmünster! (lacht)
… und Sie ecken
mit Ihrer Arbeit an, wie einst Zwingli mit seinem reformatorischen
Wirken.
Ich bin nicht
allein. Wir sind am Offenen St.Jakob ein Team, das gemeinsam ein
Leitbild entwickelt hat. Zwinglis prophetisches Wächteramt spielt
dabei wie gesagt eine zentrale Rolle. Wenn wir Flüchtlinge
aufnehmen, handeln wir in seinem Geist. Zwingli hat einen
Glaubensflüchtling aus Österreich in seinem Haus beherbergt und
sich dadurch in Lebensgefahr begeben.
Wie äussert sich
das in Ihrem Fall?
Ich habe vor
einigen Jahren eine Mutter mit zwei Töchtern aus Sri Lanka «versteckt», die von der Ausschaffung bedroht waren. Heute wohnen
sie im Kanton Glarus und besitzen eine Aufenthaltsbewilligung. Sie
hatten insofern Glück, dass der Bund einige Monate später die
Ausschaffungen nach Sri Lanka gestoppt hat, weil ein Flüchtling nach
seiner Rückkehr eingesperrt wurde. Ihr Gesuch wurde neu
beurteilt, und man kam zum Schluss, dass sie tatsächlich gefährdet
sind.
Die Gesellschaft
wird immer säkularer. Hat die Religion noch eine Bedeutung?
Auch
wir verzeichnen jeden Monat Austritte. Deswegen
befinden wir uns in Zürich in einem Reformprozess in Richtung einer
Kirchgemeinde. Denn
die Infrastruktur der Landeskirchen stammt aus einer Zeit, als es
dreimal so viele Mitglieder gab. Heute lässt sie sich kaum noch
aufrechterhalten. Die spirituelle Sehnsucht aber ist meiner
Meinung nach unvermindert vorhanden.
Für viele
Menschen scheinen die Kirchen darauf keine Antwort geben zu können.
Es gibt immer mehr
Menschen, die über den Buddhismus zum Christentum zurückfinden. Sie
erkennen, dass auch unsere Religion
eine mystische Tradition hat. An unseren Pilgerreisen nehmen viele
Leute teil, die sonst nie einen Gottesdienst besuchen. In gewisser
Weise machen wir die Reformation ein
Stück weit rückgängig, indem wir die sinnliche und
lustvolle Komponente der Religion wieder betonen. Wir haben im St.Jakob verschiedene Meditationen,
Tanzgottesdienste, Kerzen und Ausstellungen. Zwinglis extreme
Konzentration auf das Wort ist nicht mehr zeitgemäss.
Damit lässt sich
der Mitgliederschwund stoppen?
Unsere Gottesdienste sind so
schlecht besucht wie überall sonst. Aber viele Leute kommen zu uns
und finden das Spirituelle, zum Beispiel über das Tanzen oder Yoga.
Es ist für sie wie Beten, sie spüren dabei das Göttliche in sich.
Es ist nicht mehr der Herrgott weit oben im Himmel. Die
Leute reden von Energie und göttlicher Lebenskraft, die sie
erfahren.
Sie vermitteln
auf einer sinnlichen Ebene einen Bezug zur Religion.
Viele Menschen haben
mit der Kirche schlechte Erfahrungen gemacht. Die ältere Generation
hat sie als streng und lustfeindlich erfahren. Jetzt können sie
einen neuen Zugang zum Spirituellen finden, über den eigenen Körper.
Es ist für sie fast so etwas wie eine Heilung.
Die Religion
provoziert aber auch starke Abwehrreflexe, insbesondere der Islam.
Es gibt in unserem
Quartier eine Moschee, auf die im letzten Jahr ein Anschlag verübt
wurde. Wir sind auf sie zugegangen und haben ihnen unsere
Räumlichkeiten für ihre Gebete angeboten. Wir hatten auch schon
einen gemeinsamen Gottesdienst mit einem Imam und eine Ausstellung
zum Islam. Vieles basiert auf Missverständnissen. Viele setzen Koran
und Islam mit Terroristen gleich.
Wie reagieren Sie
darauf?
Genau
hinschauen! Es gibt Verse, die zur Gewalt aufrufen. Wie in der Bibel
übrigens auch. Wenn man den Kontext der damaligen Zeit nicht
berücksichtigt, sondern diese Verse eins zu eins nimmt, dann hat das
verheerende Folgen.
Die Aufklärung hat
uns geholfen, einen kritischen Umgang mit
solchen Texten zu finden. Im Islam fehlt noch weitgehend eine solche
Entwicklung. In Ansätzen gibt es sie, aber es handelt sich um eine
Minderheit.
In Rotterdam
waren Sie in einer Kirche tätig, die auch eine Moschee ist. Wie ging
das?
Es war eine
ehemalige Kirche in einem sehr multikulturellen Stadtteil. Als
Zwischennutzung übergab man sie einer Moschee. Bei uns ist das kaum
denkbar. Man würde eine Kirche eher in einen Coop umwandeln als in
eine Moschee. Die Kirche in Rotterdam wurde dann abgerissen und ein
multifunktionales Gebäude errichtet. Dort waren unsere Büros
untergebracht, feierten wir unsere
Gottesdienste und verrichteten marokkanische Muslime ihre Gebete.
Wir haben ab und zu gemeinsame Veranstaltungen durchgeführt. In der
gleichen Strasse gab es übrigens eine türkische und eine
pakistanische Moschee.
Welche
Erfahrungen haben Sie gemacht?
Ich hatte viel mit
Muslimen zu tun, besonders aus Marokko. Wenn man mit ihnen spricht,
erhält man eine Sicht auf den Islam, die sich nicht auf
Bombenanschläge des «IS» beschränkt. Viele junge
Menschen mit türkischem oder arabischem Hintergrund sind genauso
wenig gläubig wie unsere
Jugendlichen. Auch Moscheen haben Schwierigkeiten, die Jungen
zu erreichen. Problematisch ist der Einfluss des Wahhabismus aus
Saudi-Arabien, der auch bei uns immer mehr Einfluss zu erlangen
versucht.
Sie engagieren
sich politisch, auch bei kontroversen Themen. Ist das ein Weg, damit
die Kirchen ihre Daseinsberechtigung verteidigen können?
Es ist sicher nicht
der einzige Weg, und er steht auch nicht zuvorderst. In erster Linie
geht es um spirituelle Bedürfnisse. Wir haben vier Bereiche in
unserem Leitbild: Spiritualität, Kulturelles, Gemeinschaftserlebnis
und Politik. Diese versuchen wir zu verbinden. Aber wir machen uns
nichts vor, unser Engagement beeinflusst keine Abstimmungsergebnisse.
Dafür ist unsere Bedeutung zu gering. Wir versuchen, ab und zu etwas
Sand ins Getriebe zu werfen. Im Sinne des prophetischen Wächteramts
äussern wir uns kritisch zu politischen Themen.
Konservative
Kreise fordern, dass die Kirchen sich nicht politisch engagieren,
sondern sich auf die Seelsorge beschränken.
Dann kann man die
Kirchen gleich abschaffen. Die Propheten waren durch und durch
politisch, sie haben den Herrschern die Leviten gelesen. Jesus wurde
von den Römern angeklagt, weil er als Aufwiegler galt und ihre Macht
in Frage stellte. Im Alten Testament wurde das Auseinanderdriften von
Reich und Arm thematisiert und mit Massnahmen bekämpft, die heute
als extrem progressiv gelten würden. Zum Beispiel dem Sabbatjahr, einem Schuldenerlass nach
sieben Jahren. Wer eine unpolitische Kirche fordert, besitzt offenbar
eine andere Bibel.
Der Pfarrerssohn
Christoph Blocher steht kaum für eine politische Kirche.
Wahrscheinlich
nicht. Es kommt darauf an,
mit welcher Brille man die Bibel liest. Es gibt Leute, die politisch
weit rechts stehen und sich dabei auf die Bibel berufen. Ich wurde
vor der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative von der
evangelikalen EDU eingeladen, um das Nein zu vertreten. Mein
Gegenspieler hat seine Argumente ebenfalls mit Bibelzitaten
unterstrichen. Für mich ist die
Richtschnur in der Bibel aber klar: Es geht um Liebe und
Gerechtigkeit.
Sie haben für
Aufsehen gesorgt, als Sie der Occupy-Bewegung Gastrecht gewährten.
Occupy hat sich für Gerechtigkeit und mehr
Ökologie und gegen die ausufernde Finanzwirtschaft eingesetzt.
Deshalb waren wir bereit, sie für einige Zeit willkommen zu heissen
und mit unserer Infrastruktur zu unterstützen. Tatsächlich nahmen
die Aktivisten einmal am Gottesdienst teil. Da war die Kirche wieder
einmal voll, das war sehr schön.
Die Landeskirche
hat kein Problem mit dieser Art von Engagement?
Sie lässt uns
machen. Der Offene St.Jakob geniesst eine gewisse Narrenfreiheit. Es
ist auch gut, dass nicht alle Kirchen gleich sind.
Sie engagieren
sich auch für die Rechte von Homosexuellen.
Man muss die Bibel
in diesem Punkt ein Stück weit kritisieren. Es gibt homophobe
Stellen, aber die muss man aus der damaligen Zeit und Kultur heraus
verstehen. Wir veranstalten seit langem «gay&hetero
friendly»-Gottesdienste, die offen sind für alle. Seit einigen
Jahren führen wir Valentins-Feiern am 14. Februar durch, zu denen
gleichgeschlechtliche Paare explizit willkommen sind.
Wenn die «Ehe
für alle» kommt, würden Sie homosexuelle Paare in Ihrer Kirche
trauen.
Ja klar – ich
hoffe, dass ich das bald offiziell tun darf!
Die Reformation
hatte auch Schattenseiten. Luther hetzte gegen Juden und
aufständische Bauern, Zwingli liess die Anführer der Täuferbewegung
in der Limmat ersäufen.
Wir haben uns
überlegt, als Beitrag zum Jubiläumsjahr etwas über die dunklen
Seiten der Reformation zu machen. Durch die Fülle der
Veranstaltungen ist das ein wenig untergegangen. Aber das kann noch
werden. Zwingli hat erst 1519 als Priester im Grossmünster
angefangen.
Zu diesen
Schattenseiten könnte man auch die Frauenfrage zählen. Sie betrifft
die Reformierten vielleicht nicht im gleichen Mass wie andere
Konfessionen oder Religionen. Trotzdem fragt man sich: Hat die
Religion ein Frauenproblem?
Die so genannten
Hochreligionen entstanden in sehr patriarchalen Zeiten, in denen die
Frauen viel weniger Rechte besassen. Ich selbst habe kaum
Diskriminierung erfahren. Im Gottesdienst predige ich über Texte, die nicht
frauenfeindlich sind. Ich vermeide auch den Begriff «Herr» und
spreche von Gott oder dem Ewigen. Leider kann man deswegen viele
schöne Kirchenlieder nicht mehr singen, weil sie voll des Herrn und
sehr moralisierend sind. Es gibt Lieder mit modernen Texten, aber die
sind melodisch nicht so eingängig.
Wie würden Sie
einem Agnostiker die Vorzüge der Religion erklären?
Ob es Gott wirklich
gibt, weiss auch ich nicht,
weshalb ich grosse Sympathien habe für Menschen, die sich als
Agnostiker bezeichnen. Dennoch ist die Religion für mich ein
spannender Weg. Wir sind eine Gemeinschaft von Suchenden, heisst es
in unserem Leitbild. Wir haben in unserer Kirche kaum Einfluss darauf, was der Einzelne
finden wird. Man kann aber
auf diesem Weg zu Einsichten gelangen, auf
die wir im Alltag nicht so schnell kommen.
Die Zweifler
können Sie damit kaum überzeugen.
Natürlich fragt man
sich, wie das ganze Leid auf der Welt möglich ist und man trotzdem
an Gott glauben kann. Ich verspüre dieses Spannungsfeld sehr wohl.
Atheisten haben es da einfacher.