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Du willst nur das Beste? Voilà:
BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti hat den Bundesrat aufgefordert, sich der Problematik der «Schwulenheilung» bei Minderjährigen anzunehmen. Der Bundesrat sagte, es bestünde keine Notwendigkeit für eine neue Strafnorm. Was halten Sie davon?
Michel Rudin: Wir sind grundsätzlich
enttäuscht von der Stellungnahme. Klar, theoretisch bestehen schon
jetzt Möglichkeiten für Betroffene, sich zu wehren, aber im Alltag
ist es so: Kinder und Jugendliche, die sich einer solchen Therapie
unterziehen, stammen aus einem Umfeld, dem man sich nicht einfach so
entziehen kann, das ist ein Teufelskreis. Wir sehen also nach wie vor
Handlungsbedarf, vor allem sollten die entsprechenden Therapien
endlich verboten werden.
Was ist genau unter der «Heilung von Homosexuellen» zu verstehen?
Alleine schon der Begriff ist eine
sprachliche Absurdität. Es ist mittlerweile seit 30 Jahren Common
sense, dass Homosexualität keine Krankheit ist, also gibt es auch
nichts zu heilen. Was die Therapeuten, Psychologen und Seelsorger mit
ihren pseudo-wissenschaftlichen Methoden probieren, ist, über
psychische Umpolung – man kann es auch Gehirnwäsche nennen – die
Triebe der Jugendlichen umerziehen.
Der Bundesrat schreibt in einer
Stellungnahme, ihm seien keine Organisationen oder Personen bekannt,
die Therapien gegen Homosexualität bei Minderjährigen anbieten. Mit
einer einfachen Websuche stösst man schnell auf entsprechende
einschlägige Webseiten.
Nun, es ist ja nicht die Aufgabe des
Bundesrats, hier zu recherchieren. Wir wissen von den Angeboten, sie
sind äusserst niederschwellig.
In welchen Kreisen werden diese
Therapien in der Schweiz durchgeführt?
In erster Linie im
christlich-konservativen Milieu, also in evangelikalen Kreisen,
innerhalb des freikirchlichen Spektrums und bei christlichen Sekten.
Allgemein gesagt: Dort, wo ein konservatives Weltbild gekoppelt ist
mit einer religiösen Lebensweise. Ausserhalb wäre mir nichts
bekannt. Das Grundmotiv liegt praktisch immer in der Religion.
Wie muss man sich solche Therapien vorstellen?
Es gibt verschiedene Methoden, eine ist an Psychotherapien angelehnt. So werden Sitzungen abgehalten und über Verfehlungen und Ängste gesprochen und langsam wird einem eingeredet, dass man enthaltsam leben sollte, oder sich in eine Hetero-Beziehung begeben muss. Alles in allem ist es schlicht eine Unterdrückung des höchstpersönlichen Triebes, was für die Betroffenen natürlich mit viel Leid verbunden ist.
Pink Cross und andere
LGBT-Organisationen bieten Beratungsangebote für Betroffene an.
Ja, aber wie gesagt, die Hemmschwelle
ist enorm gross. Viele schaffen den Ausstieg gar nie, wir haben
natürlich nur von einem Bruchteil der Betroffenen Kenntnis, die
Dunkelziffer ist hoch. Sich bei einer entsprechenden Beratungsstelle
zu melden, ist mit viel Scham verbunden. Und die Verantwortlichen
strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen, ist noch viel schwieriger.
Stellen Sie sich vor: Ihre Familie, Ihre besten Freunde, Ihre ganze
soziale Umgebung, alle sind involviert: Würden Sie dann eine
Strafanzeige machen? Wohl eher nicht, vielleicht mag man als Opfer auch nicht mehr weiterkämpfen, ist erschöpft, lässt es beruhen. Das ist
verheerend.
Was verursachen denn diese Therapien
bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen?
Wenn mit einer Gehirnwäsche an der
sexuellen Ausrichtung herumgeschraubt wird, dann hat das Auswirkungen
auf die Psyche, da muss man kein Arzt sein, um das zu konstatieren.
Die Integrität der Person – wozu auch die sexuelle Neigung gehört –
wird in Frage gestellt. Natürlich heisst das nicht, dass alle
Personen gleich reagieren, die individuellen Veranlagungen spielen
eine Rolle. Aber die Gefahr ist da, dass im schlimmsten Fall
Persönlichkeitsstörungen und Depressionen aus diesen Therapien
resultieren. Das ist ein weiterer Grund, warum man intervenieren
sollte: Die Gesellschaft trägt diese Folgekosten schlussendlich mit.
Apropos Kosten: Gibt es Hinweise
darauf, dass Dienstleistungen von Psychotherapeuten über die
Krankenkasse abgerechnet werden? Also der Steuerzahler dafür
aufkommt?
Ja, das kommt vor. Die Therapeuten, die
solche Angebote bereitstellen, sind ja Fachleute, die eine
entsprechende Ausbildung haben, deshalb können sie ihre Behandlungen
auch über die Krankenkasse abrechnen.
Und was steht dann auf der
Abrechnung? «Umpolung von Homosexuellen»?
Nein, da wird
natürlich ein Geheimnis darum gemacht. Anstatt das Kind beim
Namen zu nennen, steht dann halt: «Depression». Als Arzt weiss
man schon, welche Formulierungen man gebrauchen muss, damit keine
kritischen Fragen auftauchen.
Nicht selten handelt es sich bei den Therapeuten, die solche Behandlungsmethoden anbieten, selber um «geheilte» Schwule. Wie erklären Sie sich diesen Umstand?
Das zeigt genau den Teufelskreis auf. Die ungesunde Haltung, die sich solche Therapeuten selber eingeredet haben, oder eingeredet bekommen haben, geben sie nun weiter.
Früher wurden Elektroschocks
eingesetzt, um Schwule umzupolen, Ende 2014 ist es deswegen in
China zu einem aufsehenerregenden Prozess gekommen. Gibt es in der
Schweiz noch Behandlungsmethoden, die derartige Mittel anwenden?
Wir wissen nichts von solchen Methoden,
zum Glück. Es wäre aber falsch, wenn der Eindruck entsteht, dass
diejenigen psychischen Therapien, wie sie in der Schweiz praktiziert
werden, harmloser wären: Das ist wie eine psychische Vergewaltigung.
Gehen die Leute, die bei einer
LGBT-Anlaufstelle ein Angebot in Anspruch genommen haben,
anschliessend wieder zurück in ihre Gemeinde?
Auch hier: Es gibt keine Zahlen. Aber
es ist natürlich festzuhalten, dass es Christen gibt, die
homosexuell sind und ihre Homosexualität offen leben.
Wie stossen die Jugendlichen
überhaupt auf diese Angebote?
Irgendwann machst du dein Coming-out,
oder du wirst erwischt. Dann wird der Fall in der Gemeinde
besprochen, es gibt vielleicht Elternräte, man sucht das Gespräch,
schlägt Therapiemodelle vor. Für die Jugendlichen, die in einer
Findungsphase stecken, ist das eine Zerreissprobe. Schliesslich wurde
einem ein Leben lang eingetrichtert, dass es falsch ist, homosexuelle
Gefühle zu haben. Man denkt dann, man lebt in Sünde, hat vielleicht
schon Handlungen vollzogen, ist zwiespältig, sucht dort Hilfe, wo
einem Hilfe geboten wird – innerhalb der Gemeinde.
Das liest sich auf den entsprechenden Webseiten dann so: «Das Thema
Glaube und Gleichgeschlechtlichkeit ist für uns alle und für
betroffene Menschen, die in christlichen Gemeinden zu Hause sind,
eine grosse Herausforderung. Nicht selten kann Druck durch die
Gemeinde oder politische Diskussionen entstehen, der die Lage für
Betroffene noch schwieriger macht. Wir wollen dir deshalb ohne
jeglichen Druck und Vorurteil Raum für Gespräche und unsere
Unterstützung bieten.» Auf den ersten Blick nichts Fundamentalistisches oder Schwulenfeindliches.
Nun, das Konstrukt stimmt für sich
genommen ja schon, in sich ist es stringent, bloss: Das Problem ist,
dass man sich nicht aussuchen kann, ob man homosexuell ist oder
nicht. Man kann sich noch lange vorstellen, ob es besser ist, in
einer heterosexuellen Gefühlswelt zu leben oder nicht. Da liegt ja
der Hund begraben: Man hat eigentlich gar keine Lust homosexuell zu
sein, weil man aus einem konservativen Elternhaus kommt und in einem
konservativen Umfeld sozialisiert worden ist. Es liegt auf der Hand,
dass man sagt: «Ich habe keine Interessen, mit Männern zu
verkehren, aber irgendwas in mir läuft schief, das muss gerade
gerückt werden.»
Wie viele Betroffene wenden sich
jährlich an Pink Cross beziehungsweise allgemein an Beratungsstellen?
Wir können
es schlicht nicht sagen, das ist das grosse Problem. Egal in welchem Bereich, in der Homo- oder
in der Transgenderthematik, bei Missbrauchsfällen oder bei der «Schwulenheilung»: Man hat fast keine Zahlen, und zwar in der
ganzen Schweiz.
Woran liegt das?
Es ist in erster Linie eine Frage des
Budgets. In der Schweiz existieren circa 44 Organisationen im
LGBT-Bereich, aber der Grossteil von ihnen ist finanziell schlecht
aufgestellt. Es gibt wenig Festangestellte, die meisten arbeiten
freiwillig. Dabei wäre umfassende Statistik auch eine Möglichkeit,
den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Sehen Sie, vor 20
Jahren war das ganz anders, Schwulenhetze war da viel salonfähiger,
oder auch die Behauptung, dass es Homosexuelle eigentlich gar nicht
gibt. Mittlerweile wird sich die Bevölkerung langsam bewusst, dass
wir Homosexuellen ein Teil der Gesellschaft sind.
Wie steht die Schweiz im
internationalen Vergleich da?
Wenn wir die Länder weglassen, in
denen LGBT-Menschen die Todesstrafe oder ähnliche Sanktionen drohen,
dann sind wir wahrscheinlich irgendwo im Mittelfeld, die Musterländer
sind wie so oft Schweden, Norwegen, Dänemark. Wichtig für uns wäre,
die folgenden Fragen beantworten zu können: Gibt es homophobe
Gewalt? Gibt es psychische Gewalt? Wie gross ist das Problem? Wenn
man diese Fragen beantwortet hat, gibt es eine Zahlengrundlage. Denn
dass es zahlreiche Opfer gibt, das wissen wir. Je mehr Daten wir
haben, desto besser können wir den Betroffenen Unterstützung
bieten. Aber machen wir uns keine Illusionen: Homophobie und
Transphobie wird es immer geben, wir können nur versuchen, die
Vorurteile und Ressentiments bis zu einem gewissen Punkt abzubauen.
Wenn in kirchlichen Kreisen über
Homosexualität gesprochen wird, tönt das zwar oftmals ganz
fortschrittlich, bohrt man aber tiefer, so stösst man nicht selten
auf konservatives Fundament, das Homosexualität entschieden ablehnt.
Für viele Christen ist Homosexualität
noch immer eine Sünde, aber im 21. Jahrhundert ist es schwieriger,
offen gegen Schwule und Lesben zu argumentieren. Unter dem Deckmantel
der Progressivität wird so vielfach eine reaktionäre Haltung
gepflegt. Das muss nicht einmal eine Altersfrage sein: Ich kenne
Jugendliche, die sich in Kirchen engagieren, sich öffentlich
progressiv geben, gegen innen aber erzkonservativ sind. Die Kirche
macht das aber auch geschickt. Sie sagt: Du als Mensch bist
angenommen, aber deine sexuelle Ausrichtung ist eine Sünde. Man
trennt zwischen dem Mensch und seinem sündigem Verhalten.
Engagieren sich die kirchlichen
Verbände genug?
Nein, ich würde mir vor allem von den
Landeskirchen wünschen, dass sie sich entschiedener dagegen äussern.
Eine offenere Kommunikation täte auf jeden Fall Not. Auch intern
gibt es viel Spielraum, vor allem auch bei den reformierten Kirchen,
wo ein relativ breites Spektrum existiert – ich selber bin auch
Protestant. Man kann es ja an der Liebe, das Kernthema des
Christentums, ausrichten: Letzten Endes handelt es sich um Gewalt am
Menschen. Man darf nicht vergessen, die Kirchen haben eine moralische
Deutungsmacht wie kaum eine andere Institution, zudem werden sie
staatlich unterstützt. Das bedingt, dass sie Verantwortung
wahrnehmen und sich nicht in Vermeidungsstrategien üben.