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Nietzsche nannte ihn «einen auf den Raum seiner Nagelschuhe beschränkten Bauern». Für Goethe war er ein «Genie sehr bedeutender Art». Der Astronom Johannes Kepler fragte sich, was man von seinem dauernden Gefluche und den unflätigen Ausdrücken halten solle. Und Friedrich der Grosse beschrieb ihn als «wütenden Mönch und barbarischen Schriftsteller». Aber Friedrich wollte seinerseits neben seinen Hunden beerdigt werden, wer weiss also, ob man seinem Urteil trauen kann.
Was war Luther für ein Mensch? Sicherlich ein ziemlich zwiespältiger. Vielleicht lag das daran, dass er ein Übergangsmensch war – wie eine gotische Bildsäule stand er im neuzeitlichen 16. Jahrhundert. Er war der mittelalterlichen Ordnung verhaftet geblieben. Den aufständischen Bauern, die sich gegen ihr Elend erhoben, die nichts weiter als urchristliche, menschliche Rechte einforderten, kehrte er den Rücken. In einem ihrer zwölf Artikel verlangten sie, ihren Gemeindepfarrer selbst zu wählen und ihn aus dem Zehnten – ihren Abgaben an die Kirche – zu bezahlen. Luther nannte die Forderung einen «eitel Raub und Strauchdieberei». Die Bauern würden nach dem Zehnten verlangen, «der nicht ihr ist, sondern der Obrigkeit.»
Nur gehörte der Zehnte sehr wohl den Bauern. Und er machte etwa drei Viertel ihres ganzen Einkommens aus. Für Luther aber war die Leibeigenschaft «eine gottgefällige Einrichtung», denn auch Abraham habe schliesslich Leibeigene gehabt.
An dieser flachbrüstigen Argumentation erkennt man hervorragend, wie es um sein Verständnis historischer Zusammenhänge bestellt war. Cäsar – das politische und strategische Genie des alten Roms – nannte er einen «Affen»; Cicero – diesen scheinheiligen Moralapostel – lobte er in den Himmel; Aristoteles – der wachste Geist der alten Hellas – war in Luthers Augen ein «müssiger Esel» gewesen.
Luther begriff offenbar nicht, dass die Idee eines freien Christentums, das keinen römischen Oberhirten, keine Bischöfe und Priester kennt, das restlos alle Vermittler zwischen Gott und den Gläubigen tilgen will, auch die Vorstellung von gleichberechtigten Menschen in sich barg. Und dass dieser Gedanke, wird er einmal wach in den Köpfen der Gebeutelten, stets zu einer Revolution führt. Besonders dann, wenn der Mann, der sie so glühend predigt, selbst von niederem Stande ist.
Vielleicht war Luther auch einfach asozial. Ganz sicher aber wollte er nicht, dass man seinen religiösen Kampf politisiert.
Er war ein Übergangsmensch an der Schwelle zur Moderne. Und so stellt sich die Frage, was an ihm eigentlich modern war. Die Reformation hat er nicht erfunden. Die Kritiken an der katholischen Kirche rauschten bereits durch die zwei vorhergehenden Jahrhunderte.
Vorrangig in Gestalt des englischen Theologen John Wyclif, der bereits vor Luther lehrte, dass der Papst ganz sicher nicht der Nachfolger Petri sei und der bischöfliche Segen nichts tauge. Beten könne man nicht nur in der Kirche, sondern überall, und die Priester sollten heiraten dürfen.
Der grosse Humanist Erasmus von Rotterdam schrieb zu Luthers Zeiten ebenso gegen die katholische Kirche. Nur leider verleugnete er seine einsichtigen Gedanken, sobald er seine Pfründe in Gefahr sah. Ziemlich sicher war Erasmus der klügere Kopf als Luther, aber während Erasmus die Reformation nur lehrte, lebte Luther sie. Und füllte die Idee eines profanen, gottgefälligen Christenlebens frei von obrigkeitlichen Bestimmungen mit seinem kochenden Blut.
Während sich Erasmus also in die Hosen machte, hämmerte Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Und selbst wenn er dies nicht eigenhändig getan hat – das war der Hausmeister der Uni, der damit eine akademische Disputation ankündigte – Fakt ist, der Mann hat sich mutig gegen Rom gestellt.
Er prangerte öffentlich den katholischen Ämterkauf an. Das schmutzige Geschäft mit Würde, Ansehen, Macht und Ehre. Er wetterte gegen den Ablasshandel, dieses kirchliche Ausplünderungsunternehmen, das Gott zum Bürgen des Sündengeschäfts machte. Den Schacher der Päpste, die sich schamlos erlaubten, den Herrn in irdische Geschäfte zu verstricken. Er schrie laut heraus, was sein Jahrhundert dachte.
Das alles bleib natürlich nicht ungestraft. Luther wurde in Rom der Häresie angeklagt. Am 15. Juni 1520 erliess Papst Leo X. eine Banndrohungsbulle. Darin wurden 41 lutherische Sätze willkürlich umgedreht und ohne Widerlegung verdammt. 60 Tage bekam er Zeit, sich zu unterwerfen, ansonsten würde er exkommuniziert.
Doch Luther unterwarf sich nicht. Er verbrannte stattdessen die päpstliche Bulle vor dem Wittenberger Elstertor – und wurde 1521 aus der kirchlichen Gemeinschaft geschmissen.
Luthers Papst war die Bibel. Er ersetzte die lebendige Autorität der Kirche durch die tote Schrift. Das kann man wohl ziemlich modern nennen. Denn an die Stelle des menschlichen Irrens tritt jetzt die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Es ist der Siegeszug des schreibenden Menschen, und durch die Druckerpresse wird es möglich, eine breite Wirkung zu erzielen. Luther war Deutschlands grösster Publizist, der seinen Zeitgenossen mit seiner Bibelübersetzung eine einheitliche Schriftsprache schenkte.
Aber die Protestanten waren nicht frei von klerikaler Herrschsucht. Sie äusserte sich nur in vielem anders. Während sich die Religiosität des landläufigen Katholiken auf die rohe Anbetung irgendwelcher Riten beschränkte, fingerte sich die reformierte Hand in den Alltag der Gläubigen. Der Protestant hat sich nicht nur in der Kirche, sondern überall und jederzeit gottgefällig zu verhalten. Doch wenn das gesamte profane Leben zum Gottesdienst erhoben wird, muss dieses auch entsprechend überwacht werden.
In seiner ganzen Pracht tritt das im Calvinismus zu Tage, diesem humorlosesten aller Arme, die der Reformation entwuchsen. In alles mischte sich die klerikale Polizei, die fast jede Äusserung natürlichen Lebensdranges untersagte und bestrafte: Feste, Theater, Gesang, Literatur, Spiele, laute Scherze, Schmuck, leichtsinnige Reden; alles war verboten. In der Kahlheit dieser schmucklosen Gotteshäuser vertrocknete jeder Frohsinn.
Die Omnipotenz der Kirche – der Traum des Papsttums – gelangte ironischerweise im Calvinismus zu seiner Ausführung.
«Was bedeutet die Reformation für die europäische Kultur?», fragt sich Egon Friedell in seinem Meisterwerk «Kulturgeschichte der Neuzeit» – und resümiert:
Durch Luther erfuhr das Wort «Beruf» seine heutige Bedeutung: Die Berufung wurde zum Handwerk, zur Fachtätigkeit. Die Arbeit – von den Katholiken als profan und unheilig empfunden – wird geadelt, ja fast schon heilig gesprochen. Und damit indirekt auch das Geld, das man damit verdient.
Die Reformation, die sich die Rückkehr zum reinen Bibelwort auf die Fahne schrieb, steht damit im schärfsten Widerspruch zur Heiligen Schrift. Arbeit gilt darin nämlich nicht als erstrebenswert. Im Gegenteil. Sie ist die Strafe für den Sündenfall. Als Adam unerlaubterweise von der verbotenen paradiesischen Frucht nascht, sagt der alttestamentarische Gott zu ihm: «Im Schweisse deines Angesichts sollst du fortan dein Brot essen.»
Adam wird zur Arbeit verflucht, offenbar die furchtbarste Strafe, die Gott, der ja noch ein Gott der Rache ist, für den Frevel des ersten Menschen zu ersinnen vermochte.