Wenn
ich mir Männer und Frauen in der Bibel anschaue, läuft es immer auf diese ganz
einfache Ordnung hinaus: Der Mann kann herrschen, aber er kann sich nicht
beherrschen. Jedenfalls nicht, wenn er sich einer Frau gegenübersieht. Die ist automatisch eine Versuchung.
In der Bibel, auch der christlichen Tradition,
ist so viel drin, was auch toll ist. So viele Sachen, die wertvoll sind,
die schön sind, die mich durchs Leben tragen, die Freude machen. Das Problem
ist, dass das immer alte Männer waren, die bestimmten, wie diese Texte gelesen
werden sollen und wie das rezipiert werden muss. Die Bibel selbst ist gar nicht
so schrecklich und es gibt viele befreiende Geschichten.
Auch
über Frauen?
Es gibt Judith, die Holofernes köpft. Und es
gibt Paulus, der sagt, zwischen Männern und Frauen ist kein Unterschied. Das
Problem ist, dass der gleiche Paulus an anderer Stelle das Gegenteil sagt und
dass natürlich eher diese Stelle rezipiert wurde. Mich nervt es immer, wenn die
Leute sagen: Das Christentum ist doch die gute Religion, der Islam ist böse!
Die Strukturen sind überall ähnlich, egal ob im Christentum, im Islam, im Buddhismus,
Hinduismus oder Judentum.
Es liegt nicht an der Religion oder an den
Texten, auf denen Religionsgemeinschaften basieren. Es liegt daran, dass diese
Gemeinschaften aus Gesellschaften entstanden sind, in denen nur Männer das
Sagen haben. Oft auch reiche, einflussreiche Männer. Es geht ja nicht nur um
Mann und Frau, es geht auch um Reiche und Arme. Es geht ganz einfach um
Machtstrukturen. Und jeder, der Macht hat, neigt dazu, diese zu zementieren. Religion
ist dafür hervorragend geeignet! Ich kann sagen: Gott will halt nicht, dass Frauen Priester werden, da kann ich gar nichts machen!
Gott
ist der Chef.
Der Punkt ist bloss: Wer weiss, was Gott will?
Warum soll der Papst das eher wissen als ich? Gott spricht zu jedem von uns,
und keiner ist näher an ihm dran als andere.
Sind
Sie eigentlich römisch-katholisch erzogen worden?
Ich bin lutherisch erzogen worden. Als ich
fünfzehn war, konvertierte meine ganze Familie zum Katholizismus. Für unseren
Lebensalltag hat es keinen grossen Unterschied gemacht, ob wir lutherisch oder
katholisch lebten. Wir waren sehr, sehr, sehr fromm. Auch, weil wir sehr, sehr,
sehr arm waren.
Das
heisst?
Ich habe sechs Geschwister, bis zum zweiten
Kind war meine Mutter Krankenschwester, danach blieb sie zuhause, mein Vater
ist gelernter Dreher. Meine Eltern hatten es sehr schwer. Religion war das, was
im Leben Halt gegeben hat. Gott hat uns durchs Leben getragen. Gott war meine
erste Bezugsperson, ich hatte das Gefühl, er ist da und liebt mich.
Dann
war Ihre Entscheidung, ins Kloster zu gehen, gar keine extreme pubertäre Laune,
sondern hat sich quasi organisch ergeben?
Beides. Religion war so sehr meine Welt, dass
ich mich nirgendwo sonst zuhause fühlte, ich war in keinem Verein, habe
nirgendwo sonst dazugehört. Das habe ich vor allem während meiner Schulzeit
gemerkt. Auch, weil wir arm waren. Zudem war mir klar, dass ich kein normales
Leben führen will. Ich wollte irgendwas Grosses machen.
Gut,
will das nicht jeder Teenager?
Auf jeden Fall hatte ich wie jeder Teenager
das Bedürfnis geliebt zu werden. Doch ich merkte schnell: Ich kann mit den
andern Mädchen gar nicht mithalten. Ich kann mir diese Klamotten gar nicht
leisten. Und ich dachte: Ist das blöd! Alle zerfleischen sich, und jede möchte
um jeden Preis mit irgendeinem Jungen gehen, egal, ob der jetzt passt,
Hauptsache, sie gefällt ihm. Wies ihr geht und was sie eigentlich will, kommt
total aus dem Fokus. Ich hatte das Gefühl, Gott ruft mich, ich hab einen spannenden
Lebensentwurf und emanzipiere mich von diesem kindischen Mädchenkram.
Und
dann kam die grosse Enttäuschung?
Es gibt ja gerade bei säkular eingestellten
Menschen dieses ideale Bild einer Nonne: Dieses total selbstlose, immer
lächelnde, hingebungsvolle Wesen – wie bewundernswert das doch ist! Die
Vorstellung, für sich selbst gar nichts mehr zu brauchen und nur noch den
andern zu dienen, ist irgendwie grossartig. Aber es ist überhaupt nicht
grossartig, es ist furchtbar. Ich habe
dieses Ideal auch verfolgt, ich dachte, ich komme Gott näher, wenn ich mich
ganz aufgebe und verleugne. Das war natürlich eine totale Falle. Ich konnte so
vom ersten Tag an nicht mehr sagen: Ich will, ich brauche, ich möchte.
Das
klingt dramatisch.
Irgendwann hörte ich auf zu existieren. Man
denkt und fühlt nicht mehr. Man ist wie ein Zombie. Und was ganz gruselig ist:
Man lächelt plötzlich auch die ganze Zeit. Es hiess nie: Wie geht’s dir?
Sondern bloss: Mit was für einem Gesicht läufst du eigentlich herum! Weshalb
ich irgendwann nur noch lächelte. Meine Mimik und Gestik wurden die ganze Zeit
über korrigiert und kontrolliert, ich durfte nicht zu laut, aber auch nicht zu
leise sprechen, den Kopf nicht gerade halten, aber auch nicht schräg, die Beine
nicht übereinander schlagen, ich wurde komplett entpersonalisiert, aber ich
dachte weiterhin: Das ist der Weg.
Und wie
lange dauerte der?
Bis zu dem Tag, als ein Priester in meinem
Zimmer stand und mich auszog. Ich hatte überhaupt keinen Widerstand mehr. Mein
erster Gedanke war: Tut er das wirklich? Und ich wusste: Ja, er tut das jetzt
und ich kann nie irgendjemandem davon erzählen. Ich wusste auch: Hier ist
irgendwas falsch, das will Gott nicht. Das war für mich der Anlass, dieses
Selbstlosigkeitsideal zu hinterfragen und Stück für Stück aus dieser Ideologie
auszusteigen. Es klingt paradox, aber vielleicht hätte ich niemals die Kurve
gekriegt, wenn der Übergriff nicht passiert wäre.
Damals
waren Sie vierundzwanzig.
Ja.
Sind Sie
als Jungfrau ins Kloster gegangen?
Ja. Ich hatte nie zuvor einen nackten Mann gesehen.
Aber Sie
konnten es verarbeiten?
Ich hatte grosses Glück. Erstens mit meiner
natürlichen psychischen Widerstandsfähigkeit, die mich dies einigermassen
unbeschadet überstehen liess. Zweitens habe ich in diesem Kloster einen Mitbruder
gefunden, der heute mein Mann ist.
Dieser
überaus sympathische Mann aus dem Film?
Genau der. Wenige Monate, nachdem ich
vergewaltigt worden war, war er für mich da und ich merkte: Da ist ein Freund,
das ist jemand, der sich für mich interessiert, da ist ein Mitstreiter. Er war
sofort an meiner Seite, obwohl wir in getrennten Häusern lebten, sagte: Du,
wenn der das nochmals macht, helfe ich dir! Ich wusste ziemlich schnell: Das
ist Liebe. Und diese Liebe hat mich wieder zum Leben zurückgebracht.
Da
waren Sie allerdings noch nicht draussen.
Das Kloster hat mich, was es normalerweise
nicht macht, studieren geschickt. Ich erhielt ein Stipendium. Als ich wusste,
dass ich jeden Monat 700 Euro auf mein Konto erhalte, realisierte ich: Jetzt kann
ich gehen. Ich hatte ja sonst nichts.
Wie hat
Ihre Familie auf den Ausstieg reagiert? Waren sie froh, dass Sie entkommen
sind?
Die waren total erschüttert, die haben
gedacht, ich bin da glücklich. Vorgestern hab ich übrigens einen Brief aus Rom
bekommen. Ich hab ja öfter Briefe hingeschickt, jetzt hab ich eine Antwort
bekommen. Ich hab nichts anderes erwartet, bin aber trotzdem schockiert.
Bitte?!
Ich hab gewusst, dass sowas kommt, aber ich
bin trotzdem fassungslos.
Das ist
ein Standardbrief, oder?
Ja, das ist ein Standardbrief. Aber ich hab
denen ja nicht geschrieben «mein Kind ist krank» oder so, ich hab genau
geschrieben, was passiert ist, hab Studien zitiert.
Wie
haben Sie nach dem Verlassen des Klosters eigentlich zu Ihrer Stimme in der
Öffentlichkeit gefunden?
Lange nach meinem Austritt hab ich noch
geglaubt: Ich bin die einzige, der sowas passierte. Dann bin ich auf eine
amerikanische Studie aus den 90er-Jahren gestossen, in der stand, dass dreissig
Prozent aller Ordensfrauen missbraucht werden. Ich habe unzählige Frauen
getroffen, die im Kloster spirituell und sexuell missbraucht wurden, die jetzt
in Trümmern liegen und denen keiner zuhört. Für sie machte ich den Film und
schreibe ich Bücher. Das ganze System beruht ja darauf, dass die Opfer
nicht reden. Ich will für sie kämpfen.
Betrachten
Sie sich als Feministin?
Wenn man Feminismus so definiert, dass es
darum geht, die Herrschaft von Menschen über andere Menschen abzuschaffen und
jeden Menschen als das zu sehen, was er ist, dann bin ich ganz klar Feministin.
Und was
machen wir jetzt mit der Religion?
Ich möchte immer dafür eintreten, unser
religiöses Erbe und die Quellen, die Geschichten, die Texte, die Bilder bis hin
zu der Musik, den Gebäuden und den Ritualen, die wir von da haben,
wertzuschätzen und selbstbestimmt damit umzugehen. Sich herauszunehmen, was gut
ist. Was uns hilft und tröstet.
Was
haben Sie sich denn herausgesucht?
Für mich ist eins der mächtigsten Bilder in
der Bibel, von denen ich mir wünschen würde, dass das stimmt und dass das wahr
ist, das Jüngste Gericht. Die Vorstellung, es gibt einen Moment, wo auch die
allergrössten Schurken der Weltgeschichte sich nicht mehr verstecken und
rausreden können. Wo jemand vor ihnen steht, der deutlich mächtiger ist und sie
konfrontiert und verurteilt. Und wo die andern, die ihr Leben lang nur gelitten
und nur Scheisse erlebt haben, getröstet werden. Wo sie noch einmal aufgehoben
sind und es schön haben.