«Steuern auf eine Katastrophe zu»: Direktorin des Pflegefachverbands schlägt Alarm
In den nächsten Jahren dürfte der demografische Wandel das Schweizer Gesundheitssystem mit voller Wucht treffen. Besonders betroffen: die Alters- und Pflegeheime. Das zeigt eine aktuelle Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan). Demnach braucht es über 600 zusätzliche Heime und 7000 neue Stellen, um diesen Entwicklungen zu begegnen.
Übersetzung
Dieser Text wurde von unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Romandie geschrieben, wir haben ihn für euch übersetzt.
Das Pflegepersonal wird diese demografischen Verschiebungen direkt zu spüren bekommen – obwohl es schon heute mit mehreren Baustellen kämpft, vor allem bei den Arbeitsbedingungen. Das sagt Sophie Ley, Präsidentin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK-ASI).
Bereitet die Alterung der Bevölkerung dem SBK-ASI Sorgen?
Sophie Ley: Ja. Die Alterung der Bevölkerung, die Zunahme chronischer Krankheiten und der daraus resultierende Pflege- und Betreuungsbedarf bereiten uns Sorgen. Um dem zu begegnen, müssen wir immer mehr Fachpersonen ausbilden. Doch das qualifizierte Personal nimmt hierzulande weiter ab, weil viele aussteigen.
Wie sind diese Abgänge zu erklären?
Die Arbeitsbedingungen sind nicht gut. Der Einstieg von der Grundausbildung in den Berufsalltag ist extrem schwierig. Viele Pflegefachpersonen entscheiden sich deshalb schon ganz am Anfang ihres Berufslebens – oft nach nur wenigen Jahren – wieder auszusteigen.
Von welchen Bedingungen sprechen wir?
Vor allem um Arbeitsüberlastung – sie entsteht, weil die Teams zu knapp oder nicht bedarfsgerecht besetzt sind. Pflegefachpersonen haben oft nicht genug Zeit, ihre Arbeit zu erledigen.
2021 hat das Stimmvolk die von Ihrem Verband lancierte Pflegeinitiative angenommen. Hat sich seither also nichts geändert?
Die Initiative wird in zwei Etappen umgesetzt. Die erste, die die Ausbildung des Pflegepersonals fördern und stärken soll, ist letztes Jahr in Kraft getreten. Seither gab es in der ganzen Schweiz Anreize und Aktionen – das ist sehr positiv. Aber die Umsetzung der zweiten Etappe, die die Arbeitsbedingungen angeht, kommt nicht schnell genug voran.
Ist die Branche also nicht bereit, den sich abzeichnenden Herausforderungen zu begegnen?
Ich würde sagen, die Branche ist bereit – zumindest was die Ausbildung betrifft. In den letzten Jahren hat sich einiges bewegt, sowohl in der Grund- als auch in der Weiterbildung. Es gibt auch stärkere Ausrichtungen auf die Bedürfnisse der Bevölkerung, etwa Lehrgänge, die chronische Krankheiten berücksichtigen. Das Problem ist: Wenn diese Leute dann in der Praxis ankommen, sind die Bedingungen schlecht.
Welche Lösungen empfehlen Sie?
Wir haben immer gesagt: Es braucht Richtlinien, damit die Besetzung mit Pflegefachpersonen dem Pflegebedarf entspricht.
Es kommt oft vor, dass Pflegefachpersonen an ihren freien Tagen angerufen werden, weil zu wenig Leute da sind. Solche Einsätze müssen angemessen bezahlt und entschädigt werden. Ausserdem braucht es Massnahmen, die den Wiedereinstieg junger Eltern erleichtern – etwa Kitas mit Öffnungszeiten, die sich an den Schichtplänen orientieren.
Sind einzelne Kantone von diesen Problemen stärker betroffen als andere?
Das ist ein Problem, das sich durch die ganze Schweiz zieht. Frühe Abgänge und Arbeitsüberlastung gibt es überall – und auch in Europa und weltweit. Besonders betroffen sind jedoch einzelne Regionen: Im Kanton Aargau soll 2023 etwa jede dritte Pflegefachperson ihren Job aufgegeben haben, zeigt eine aktuelle Studie. Das ist enorm. Andere Kantone wiederum haben bereits gehandelt und sind vorangegangen.
Wie genau?
Einige Kantone haben zum Beispiel die Löhne erhöht oder bestimmte Arbeitsbedingungen verbessert. Auch einzelne Einrichtungen haben nachgezogen – mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen attraktiver zu machen.
Und die Politik – ist sie sich dieser Probleme genügend bewusst?
Nein. Der Vorschlag des Bundesrats zur zweiten Etappe der Initiative ist aus unserer Sicht nicht ausreichend. Wir werden zwar von einzelnen Parlamentarierinnen und Parlamentariern unterstützt, aber eine echte Entscheidung ist bisher nicht gefallen. Die Politik muss ihren Job machen. Sonst steuern wir auf eine Katastrophe zu.