Schweiz
Interview

Direktorin des Pflegefachverbands schlägt in Interview Alarm

«Steuern auf eine Katastrophe zu»: Direktorin des Pflegefachverbands schlägt Alarm

Die Schweizer Bevölkerung altert – mit Folgen für das Gesundheitssystem. Das Pflegepersonal steht dabei an vorderster Front, ist aber schon heute mit gewichtigen Problemen konfrontiert, sagt die Direktorin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK).
02.10.2025, 17:4502.10.2025, 17:45
Alberto Silini

In den nächsten Jahren dürfte der demografische Wandel das Schweizer Gesundheitssystem mit voller Wucht treffen. Besonders betroffen: die Alters- und Pflegeheime. Das zeigt eine aktuelle Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan). Demnach braucht es über 600 zusätzliche Heime und 7000 neue Stellen, um diesen Entwicklungen zu begegnen.

Übersetzung

Dieser Text wurde von unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Romandie geschrieben, wir haben ihn für euch übersetzt.

Das Pflegepersonal wird diese demografischen Verschiebungen direkt zu spüren bekommen – obwohl es schon heute mit mehreren Baustellen kämpft, vor allem bei den Arbeitsbedingungen. Das sagt Sophie Ley, Präsidentin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK-ASI).

Bereitet die Alterung der Bevölkerung dem SBK-ASI Sorgen?
Sophie Ley: Ja. Die Alterung der Bevölkerung, die Zunahme chronischer Krankheiten und der daraus resultierende Pflege- und Betreuungsbedarf bereiten uns Sorgen. Um dem zu begegnen, müssen wir immer mehr Fachpersonen ausbilden. Doch das qualifizierte Personal nimmt hierzulande weiter ab, weil viele aussteigen.

«Wir wissen, dass die Schweiz bis 2030 rund 30'500 Pflegefachpersonen weniger haben wird.»

Wie sind diese Abgänge zu erklären?
Die Arbeitsbedingungen sind nicht gut. Der Einstieg von der Grundausbildung in den Berufsalltag ist extrem schwierig. Viele Pflegefachpersonen entscheiden sich deshalb schon ganz am Anfang ihres Berufslebens – oft nach nur wenigen Jahren – wieder auszusteigen.

Von welchen Bedingungen sprechen wir?
Vor allem um Arbeitsüberlastung – sie entsteht, weil die Teams zu knapp oder nicht bedarfsgerecht besetzt sind. Pflegefachpersonen haben oft nicht genug Zeit, ihre Arbeit zu erledigen.

Yvonne Ribi, Geschaeftsfuehrerin SBK-ASI und Mitglied Initiativkomitee, links, spricht neben Sophie Ley, Praesidentin SBK-ASI und Prasidentin Verein "Ja zur Pflegeinitiative", waehrend der S ...
Sophie Ley ist Präsidentin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK-ASI).Bild: keystone

2021 hat das Stimmvolk die von Ihrem Verband lancierte Pflegeinitiative angenommen. Hat sich seither also nichts geändert?
Die Initiative wird in zwei Etappen umgesetzt. Die erste, die die Ausbildung des Pflegepersonals fördern und stärken soll, ist letztes Jahr in Kraft getreten. Seither gab es in der ganzen Schweiz Anreize und Aktionen – das ist sehr positiv. Aber die Umsetzung der zweiten Etappe, die die Arbeitsbedingungen angeht, kommt nicht schnell genug voran.

«Das ist problematisch, denn so ist die Versorgung mit genügend qualifiziertem Personal in unserem Land nicht gewährleistet.»

Ist die Branche also nicht bereit, den sich abzeichnenden Herausforderungen zu begegnen?
Ich würde sagen, die Branche ist bereit – zumindest was die Ausbildung betrifft. In den letzten Jahren hat sich einiges bewegt, sowohl in der Grund- als auch in der Weiterbildung. Es gibt auch stärkere Ausrichtungen auf die Bedürfnisse der Bevölkerung, etwa Lehrgänge, die chronische Krankheiten berücksichtigen. Das Problem ist: Wenn diese Leute dann in der Praxis ankommen, sind die Bedingungen schlecht.

Welche Lösungen empfehlen Sie?
Wir haben immer gesagt: Es braucht Richtlinien, damit die Besetzung mit Pflegefachpersonen dem Pflegebedarf entspricht.

«Konkret muss der Wechsel zwischen Frei- und Arbeitstagen so gestaltet werden, dass die Leute ein ausgewogenes Leben führen und sich zum Beispiel um ihre Familie kümmern können.»

Es kommt oft vor, dass Pflegefachpersonen an ihren freien Tagen angerufen werden, weil zu wenig Leute da sind. Solche Einsätze müssen angemessen bezahlt und entschädigt werden. Ausserdem braucht es Massnahmen, die den Wiedereinstieg junger Eltern erleichtern – etwa Kitas mit Öffnungszeiten, die sich an den Schichtplänen orientieren.

Pflege Symbolbild
Viele Pflegefachpersonen geben ihren Job schon ganz am Anfang ihrer Laufbahn auf, prangert Sophie Ley an.Bild: Keystone

Sind einzelne Kantone von diesen Problemen stärker betroffen als andere?
Das ist ein Problem, das sich durch die ganze Schweiz zieht. Frühe Abgänge und Arbeitsüberlastung gibt es überall – und auch in Europa und weltweit. Besonders betroffen sind jedoch einzelne Regionen: Im Kanton Aargau soll 2023 etwa jede dritte Pflegefachperson ihren Job aufgegeben haben, zeigt eine aktuelle Studie. Das ist enorm. Andere Kantone wiederum haben bereits gehandelt und sind vorangegangen.

Wie genau?
Einige Kantone haben zum Beispiel die Löhne erhöht oder bestimmte Arbeitsbedingungen verbessert. Auch einzelne Einrichtungen haben nachgezogen – mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen attraktiver zu machen.

«Das sind punktuelle Massnahmen, die zwar positiv sind, aber bei weitem nicht ausreichen. Es braucht einen politischen Anstoss.»

Und die Politik – ist sie sich dieser Probleme genügend bewusst?
Nein. Der Vorschlag des Bundesrats zur zweiten Etappe der Initiative ist aus unserer Sicht nicht ausreichend. Wir werden zwar von einzelnen Parlamentarierinnen und Parlamentariern unterstützt, aber eine echte Entscheidung ist bisher nicht gefallen. Die Politik muss ihren Job machen. Sonst steuern wir auf eine Katastrophe zu.

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85 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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bundy
02.10.2025 21:44registriert Februar 2016
Ich merke von dieser ersten Etappe der Pflegeinitiative wenig.
Mittdreissiger, der nach 20 Jahren IT in die Pflege wechseln will, freiwillig den Lohn mehr als halbiert - aber Unterstützung im Bildungsbereich (Umschulung/Weiterbildung) ist nicht vorhanden. Beteiligung an vorher genanntem - nicht existent, keine Einrichtung will auch nur einen Rappen ausgeben, für jemanden der das will und bereit ist, die nächsten 4 Jahre - nebst Job - auch die entsprechende Aus-/Weiterbildung zu machen.
Da verstehe ich schon, haben die Leute keinen Bock und springen ab.
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jessicasrh
02.10.2025 21:41registriert Dezember 2024
Dem kann ich nur zustimmen. Ich habe Ende 2021 meine Ausbildung zur Pflegefachfrau abgeschlossen. Der Dank während der Coronapandemie? Ein Winterzauber-Tee, ein Dankesbrief und Applaus.
Ich bin gerne Pflegefachfrau und habe sehr Freude an meinen Aufgabenfeldern. Aber wenn man wegen Stress vermeidbare Fehler begeht, dann hat halt nicht ein Gast einen Kaffee statt nen Tee bekommen, sondern ein Patient ein falsches Medikament, was fatale Folgen haben kann. Sowas nimmt einen sehr mit. Parallel verdient der Partner aus der IT um einiges mehr, ohne Schichtdienst. Ich überdenke auch meine Berufswahl…
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Vecchio Trombone
02.10.2025 21:20registriert Juni 2024
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