Jessica Schiesser hat eigentlich alles richtig gemacht. Nach ihrer KV-Lehre bei SRF konnte sie bleiben, arbeitete Teilzeit in der Buchhaltung und holte nebenbei die Berufsmatura nach. Danach wagte sie den Sprung in ein Start-up und schaffte den Quereinstieg ins Marketing.
«Ich durfte Social Media betreuen, Content produzieren und Verantwortung übernehmen. Der Job war genau das, was ich wollte. Ich dachte, jetzt geht es erst los und die Welt steht mir offen», sagt die 24-Jährige zu watson.
Ende 2024 dann der Bruch: Das Start-up kürzte Stellen und Schiesser verlor ihren Job. Seither hat sie in 8 Monaten 170 Bewerbungen verschickt. Und trotzdem keine Anstellung gefunden.
Sie meldete sich beim regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (Rav), absolvierte Kurse, liess ein Bewerbungsvideo produzieren und bekam ein Job-Coaching vermittelt. «Ich fühle mich gut unterstützt. Aber letztlich bringt es wenig, wenn man nie eine Chance kriegt.»
Denn aus den 170 Bewerbungen kam es nur zweimal zu einem Vorstellungsgespräch. «Die Rückmelderate liegt bei etwa 30 Prozent. Die anderen 70 Prozent werde ich einfach geghostet.» Dabei versucht sie alles: Bewerbungsvideos für Marketing-Jobs, jedes Motivationsschreiben neu für KV-Stellen. «Manchmal denkt man, man war die Muse für die Ausschreibung – und dann kommt eine pauschale Absage.»
Als sie kürzlich eine weitere Absage erhielt, drehte sie ein TikTok über ihre Situation. «Ich habe mich geschämt, darüber zu reden. Aber das Video erreichte über 100’000 Menschen und in den Kommentaren schrieben Hunderte, dass es ihnen genauso geht.» watson hat mit zwei weiteren von ihnen gesprochen.
Anna W.* kennt den Arbeitsmarkt von beiden Seiten: als Bewerberin und als HR-Fachfrau. Nach ihrer KV-Lehre machte sie einen Sprachaufenthalt und stieg dann ins HR ein. Sie blieb vier Jahre im selben Unternehmen, machte den Fachausweis, wurde HR-Business-Partnerin. «Ich habe investiert, Weiterbildungen gemacht, Verantwortung übernommen. Ich liebe diesen Job», sagt die 26-Jährige aus Zug.
Im März kam die Kündigung – nicht wegen ihrer Arbeit, sondern weil die Chefin das ganze Team austauschte. «Wir mussten sofort den Platz räumen, als wären wir Verbrecher. Das hat mich richtig fertiggemacht.» Zwei Monate war sie krankgeschrieben. Heute läuft noch ein Verfahren mit Anwalt gegen den früheren Arbeitgeber.
Seither sucht sie, doch Absagen folgen demselben Muster: «Für Business-Partner-Rollen heisst es, ich habe zu wenig Erfahrung. Für Generalisten-Stellen wiederum bin ich überqualifiziert.» Ein einziges Vorstellungsgespräch hatte sie bisher. Am Ende scheiterte es am Arbeitsweg, weil der Arbeitgeber Bedenken hatte. W. ärgert sich: «Wir reden ständig vom Fachkräftemangel. Aber junge Leute kriegen keine Chance, Erfahrung zu sammeln.»
Keine Chance erhalten hat auch Sina C. aus Winterthur. Die 25-Jährige schloss 2022 ihre Kochlehre ab und konnte nicht im Lehrbetrieb bleiben. «Wenn man frisch ab der Lehre kommt, ohne Erfahrung, ist es extrem schwierig.»
Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich nach dem Lehrabschluss beim Rav anzumelden. «Für mich war das damals der Horror», sagt sie. Denn nach jeder Absage ging es ihr schlechter. Obwohl sie auch noch einen Kurs als Pflegehelferin absolvierte, fand sie keinen Job. Bereits nach einem Jahr waren ihre Arbeitslosentagegelder aufgebraucht. Sie wurde ausgesteuert. Zuerst sprang ihr Vater ein, doch mit 25 sagte er, er könne sie nicht länger unterstützen. Ihr blieb nur der Gang zum Sozialamt.
Heute lebt sie in einer betreuten Wohneinrichtung, arbeitet gelegentlich über eine Temporärplattform in der Pflege oder Küche. Sie sagt: «Die erfolglose Suche hat mich depressiv gemacht. Ich dachte die ganze Zeit, ich sei selbst schuld.» Sina möchte bald wieder mehrprozentig arbeiten. «Aber zuerst muss ich das alles verarbeiten.»
Die drei Frauen sind keine Einzelfälle. Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) waren im August 2025 2073 frisch ausgebildete Lernende bei einem Rav als arbeitslos registriert. Das entspricht 1,6 Prozent aller Arbeitslosen. Insgesamt stieg die Zahl der arbeitslosen 15- bis 24-Jährigen im Vergleich zum Juli um fast 20 Prozent. Das Seco erklärt dazu auf Anfrage:
Die Zunahme sei in fast allen Kantonen und Branchen spürbar. Um den Einstieg zu erleichtern, verweist das Seco auf Instrumente wie Berufspraktika, Übungsfirmen oder Coachings, die speziell auf junge Arbeitslose zugeschnitten sind.
Doch die Geschichten von Jessica, Anna und Sina zeigen: Selbst wer alles unternimmt, findet nicht automatisch einen Job.
*(Name von der Redaktion geändert)