Die Ostergottesdienste werden ohne Gläubige in der Klosterkirche stattfinden. Was löst das in Ihnen aus?
Urban Federer: Es ist eigenartig, wenn wir die Menschen auffordern müssen, die Gottesdienste bitte zu meiden. Doch auch wir gewöhnen uns an die Coronaregeln, an leere Kirchbänke. Wir wollen das Beste aus dieser Situation machen und treten über andere Kanäle mit den Gläubigen in Kontakt. Wir sind auch in einer Krisensituation präsent, um über Hoffnung und Glaube zu sprechen.
Fehlen Ihnen die Rückmeldungen nach einem Gottesdienst?
Interessanterweise erhalten wir derzeit mehr Reaktionen als üblich, zum Beispiel auf meine Predigt vom Palmsonntag, die ich auch in den sozialen Medien verbreitet habe. Wenn die Menschen das kirchliche Leben am Computer mitverfolgen, teilen sie uns offenbar öfter ihre Eindrücke mit. Generell schätzen es die Gläubigen, wenn wir in Predigten Bezug nehmen auf ihre aktuelle Lebensrealität, die durch das Coronavirus geprägt ist.
Die Pandemie krempelt das Alltagsleben komplett um, viele Freiheiten sind beschnitten. Ist ein Kloster weniger stark von den Massnahmen betroffen?
Unsere Welt ist tatsächlich weniger stark auf den Kopf gestellt. Wir schränken unsere Alltagsoptionen bewusst ein, wir leben in einem bestimmten Rhythmus, einer gewollten Gleichförmigkeit. Wir Benediktiner suchen eine innere Freiheit. Wir stellen fest, dass gerade in diesen Tagen das Interesse an unserer Lebensform steigt.
Wie äussert sich das?
Viele Menschen realisieren, dass Mitglieder einer Klostergemeinschaft permanent mit gewissen Einschränkungen leben, die das Coronavirus jetzt allen aufzwingt. Wir sind so etwas wie Experten für den Lockdown. Eine oft gestellte Frage lautet: «Wie macht ihr das?»
Was antworten Sie?
Dass wir bewusst einen strukturierten Tagesablauf haben, der geprägt ist von Beten, Arbeiten, Bildung und gemeinsamen Erholungszeiten. Dass das gemeinsame Essen ein wichtiger Ort des Zusammentreffens ist, wie in Familien. Und dass auch die Ruhe einen bedeutenden Teil in unserem Leben einnimmt. Ruhe und Momente des Rückzuges sind für alle Menschen wichtig. Es hilft zum Beispiel, wenn man die Arbeiten ungestört im Homeoffice erledigen kann.
Leidet das spirituelle Leben?
Es leidet nicht, sondern erfährt im Gegenteil eine Vertiefung, da viele Mitbrüder über mehr Zeit verfügen. Das Angebot für die Gläubigen hat sich allerdings in den digitalen Raum verlagert. Wir können keine Seelsorge vor Ort machen, keine Pilger empfangen.
Gebete und Gottesdienste werden via Livestream übertragen. Wie intensiv wird das Angebot genutzt?
Das Interesse steigt. Mittlerweile klicken täglich mehr als 8000 Personen den Livestream an und verweilen auch eine gewisse Zeit bei uns. Interessanterweise verfolgen uns beim Morgen- und Abendgebet viel mehr Leute online, als zu diesen Randzeiten je Menschen in der Kirche sitzen. Pro Tag bitten uns sodann rund 50 Personen, bei der Gnadenkapelle der Schwarzen Madonna eine Kerze für einen lieben Menschen zu entzünden und für sie zu beten. Dies bieten wir via Internet an.
Welche Anliegen formulieren die Gläubigen?
Meistens stehen familiäre Angelegenheiten im Zentrum. Es geht etwa um betagte Menschen, die man nicht besuchen darf, oder Personen, die erkrankt sind. Häufig thematisiert werden auch innerfamiliäre Spannungen.
Wie stark ist das Kloster wirtschaftlich von der Krise betroffen?
Die Opferstöcke sind leer. Auch die Einnahmen aus den Kollekten während der Gottesdienste entfallen. Der Klosterladen ist geschlossen, der Gästebereich ebenso, der Weinkeller bleibt wegen der geschlossenen Restaurants voll. Das Kloster ist mit einem bedeutenden Rückgang der Einnahmen konfrontiert. Wir erhalten keine Kirchensteuern und sind auf Spenden angewiesen. Wir wären dankbar, wenn manch ein Besucher der Livestream-Gottesdienste online spenden würde.
Das Kloster hat viele Mitarbeiter. Haben Sie Kurzarbeit angemeldet?
Ja, wir haben für einige Bereiche Kurzarbeit angemeldet. Ich mache ein Beispiel. Normalerweise bereitet die Küchenmannschaft am Mittag 500 Mahlzeiten zu, jetzt sind es 35. Im Hausdienst gibt es wegen der fehlenden Gäste und des geschlossenen Schulgebäudes viel weniger zu tun. Unsere Handwerksbetriebe bleiben aber alle offen. Und die Stiftsschule hat auf Fernunterricht umgestellt. Als Religionslehrer habe ich all meine Schüler persönlich kontaktiert und sie gebeten, aufzulisten, was sie freut und was ihnen Schwierigkeiten bereitet.
Ostern ist das Fest der Auferstehung. Kann die Osterbotschaft in der Krise Hoffnung vermitteln?
Ostern ist in erster Linie ein Glaube. Wer christlich glaubt, glaubt an einen lebendigen Gott. Jesus lebt, obwohl er gekreuzigt wurde. Dies ist eine Grundlage, aus der ich Vertrauen und Hoffnung schöpfen kann. In der Karwoche wird uns vor Augen geführt, dass Gott im Leiden gegenwärtig ist. Das Leiden und den Tod können wir nicht verdrängen. Aber Jesus aufersteht. Das Leben ist grösser als die Krise. Diese Botschaft können wir den Gläubigen mitgeben.
Wir feiern jedes Jahr Ostern. Entdecken Sie immer wieder etwas Neues? Oder wird es zur Routine?
Wie bei allem besteht auch bei der Religion die Gefahr, in eine Routine zu verfallen. Bei Ostern, dem Höhepunkt des kirchlichen Jahres, geht es mir nie so. Bezüglich Hoffnung, Freude und Zweifel stehe ich jedes Jahr an einem anderen Punkt. Deshalb setze ich mich jedes Jahr neu mit der Hoffnung auseinander, die in Ostern steckt. Ostern finde ich persönlich sehr faszinierend. Ostern ist nicht logisch, Tod und Auferstehung, alles steht Kopf. So stelle ich mir Gott vor: überraschend und anders. Diese Gedanken prägen meine Beziehung zu und meine Suche nach Gott.
Bereitet Ihnen die steigende Zahl der Kirchenaustritte Sorgen?
Natürlich beschäftigt mich das. Hinter jeder Zahl steht ein Mensch. Wir dürfen uns aber nicht zu sehr auf die Zahlen fokussieren. Stattdessen sollten wir unsere Energie darauf richten, wie wir die christliche Hoffnung leben und weitergeben können.
Ihre Schwester Barbara Schmid-Federer, Ex-CVP-Nationalrätin, hat geschildert, wie sie das Coronavirus am eigenen Leib erfahren hat. Wie haben Sie das erlebt?
Zuerst einmal machte ich mir Sorgen, denn auch ihr Mann und einer ihrer Söhne waren betroffen. Plötzlich wird ein abstraktes Virus ganz konkret. Via Familienchat war ich auf dem Laufenden, wie es der Familie geht, wie das Leben unter Quarantäne verläuft. Einzelne Einsichten in den Krankheitsverlauf habe ich meinen Mitbrüdern weitergegeben.
Bekannte Ihrer Schwester zeigten sich hilfsbereit, andere behandelten die Familie fast wie Aussätzige.
Wir gehen unterschiedlich mit Ängsten um. Die einen erweisen sich als kreativ, sie helfen, zeigen Solidarität. Andere kapseln sich ab. Gerade in Gesprächen mit jüngeren Personen fällt mir auf, dass sich diese als Verlierer fühlen, wenn sie infiziert sind von einer Krankheit, von der vor allem die ältere Generation stark betroffen ist.
Ist das Coronavirus ein Stresstest für die Generationensolidarität?
Sicher eine Herausforderung. Die älteren Menschen stehen ungewollt plötzlich da als Spassverderber der Jungen, für ihren Schutz hat der Staat weitreichende Einschränkungen des öffentlichen Lebens verhängt. Klar ist aber auch: Die Senioren leiden sehr stark, wenn sie ihre eigenen Kinder und Enkel nicht besuchen dürfen. Generell ist die momentane Situation eine Anfrage an unser Selbstbewusstsein: Wer Einzelwege geht, kann für andere zu einer Gefahr werden. Nun ist Solidarität gefragt. Wir haben als Gesellschaft jetzt die Möglichkeit, nicht nur das Ich in den Mittelpunkt zu stellen, sondern auch das Wir zu stärken.
Ihre Schwester hat explizit betont, es habe ihr geholfen, den Gottesdienst des Klosters Einsiedeln via Livestream mitzuverfolgen. Was bedeutet Ihnen das?
Das bedeutet mir viel. Es zeigt, dass wir als Klostergemeinschaft den Menschen dank der Digitalisierung nah sein können, wenn sie an einer Krankheit leiden. Mit meiner Schwester hatte ich in dieser Zeit sogar mehr Kontakt als zu normalen Zeiten. (aargauerzeitung.ch)