Die Schweiz leidet unter einer Wohnungsknappheit, Mieten und Preise steigen schnell - und doch wird wenig gebaut. Warum ist das so und ist es nur in der Schweiz so? Was kann man dagegen tun und was sollte man nicht tun? Die «Schweiz am Wochenende» hat Professor Christian Hilber gefragt, der an der «London School of Economics» zum Immobilienmarkt lehrt. Seit einem Jahr hat er an der Universität Zürich eine Zweitprofessur, dort die erste Immobilienprofessur überhaupt.
Herr Hilber, warum ist Wohnraum in der Schweiz heute so knapp und teuer?
Christian Hilber: Es ist vor allem die Folge davon, dass das Stimmvolk die Zersiedlung nicht länger tolerieren wollte. 2013 hat man deshalb das Raumplanungsgesetz revidiert. Ich halte diese Revision für den Ursprung der aktuellen Krise des erschwinglichen Wohnraums.
Dafür haben die Menschen wohl nicht stimmen wollen?Raumplanung ist etwas, was die meisten Leute langweilig finden. Und diese Revision wird extrem unterschätzt. Als die Leute darüber abstimmten, hielten sie sie wohl für nicht so wichtig. Oder sie haben nur die möglichen Vorteile erkannt, die nachteiligen Konsequenzen hingegen völlig unterschätzt.
Was haben sie denn mit dieser Revision tatsächlich bekommen?
Sie hilft sicherlich gegen die Zersiedlung. Im alten System konnten die Gemeinden nach aussen wachsen, im neuen nicht mehr. Sie haben zwar weiterhin den Anreiz, am Ortsrand einzuzonen, um neue Steuerzahler zu gewinnen. Aber sie dürfen nicht mehr. Was 2013 passiert ist, war ein Paradigmenwechsel.
Zu einer Welt, in welcher wir chronisch weniger bauen, als nachgefragt wird?
In England sieht man heute, wohin das die Schweiz führen kann. Dort sind alle grossen Städte von Grüngürteln umgeben, Greenbelts, wo man nicht bauen darf. London, Oxford oder Cambridge sind alles attraktive Städte, die rausgewachsen sind, bis sie gegen die Grüngürtel stiessen.
Also baut man dichter – das wäre ja die Lösung gegen die Zersiedlung.
Ja. Aber dafür müsste man die Voraussetzungen schaffen. Das geschieht in der Regel nicht. Die Stadt London zum Beispiel kann nicht mehr nach aussen, aber auch nicht in die Höhe wachsen. Nicht erlaubt. In die Tiefe auch nicht wirklich. Nicht erlaubt. Abreissen und dichter bauen oft auch nicht: 70 Prozent der Innenstadt sind denkmalgeschützt. Also wächst das Angebot kaum, die Nachfrage jedoch kräftig – und Wohnraum wird knapp und teuer.
Wohl auch, weil die sogenannte Verkehrsrevolution ausgelaufen ist?
Ja, früher bauten wir mehr Strassen und Schienen, Mobilität wurde günstiger. Dadurch konnten sich die Städte weiter nach aussen ausdehnen und Wohnen blieb erschwinglich. Irgendwann, vielleicht in den 1970ern, hat das gestoppt. Dann kam die restriktive Raumplanung hinzu, das häufig unerreichte Ideal vom dichten Bauen, und das Bauen wurde noch schwieriger und noch teurer. Es liegt also am Verkehr und an der Raumplanung, doch die Raumplanung ist heute deutlich wichtiger.
Warum ist jetzt erst alles so knapp?
Es gab in vielen Städten einen ähnlichen Ablauf. All diese Regeln – zu Zonen oder Höhen – hat man schon vor mehreren Jahrzehnten eingeführt, die Grüngürtel in England zum Beispiel bereits 1955. Aber damals wirkten sie nicht so einschränkend. Es gab noch Raum. Das änderte sich über die Jahrzehnte. Als die Bevölkerungen und die Einkommen wuchsen, wurden die gleichen Regeln immer einschränkender. Der Bau ist immer mehr ins Stocken geraten, Mietzinsen und Preise werden nach oben gedrückt.
Woher wissen wir, dass es so war?
In den grossen Städten sieht man das. In New York, Boston, Los Angeles, San Francisco oder London, wo die Nachfrage nach Wohnraum sehr hoch ist und die Bodennutzungsregulierungen schon viel länger und stärker einschränkend wirken. Dort steigen die Preise schon seit den 1970er- und 1980er-Jahren kräftiger. Das kommt jetzt auch in die Schweiz – mit einer vielleicht 20-jährigen Verzögerung. Es ist noch längst nicht so extrem, wie es heute in London oder im Südosten Englands ist – aber wir bewegen uns langsam in diese Richtung.
Warum ist Verdichtung so schwierig?
Wenn man früher am Stadtrand oder am Ortsrand immer weiter hinaus baute, gab es wenig Widerstand. Woher auch? Gras wehrt sich nicht und neue gutbetuchte Einwohner kreieren mehr lokale Steuereinnahmen als sie Kosten verursachen. Baut man in der Innenstadt ein Hochhaus, trifft es zig Anwohner. Und viele sagen dann: «Verdichten, ja gerne, aber bitte nicht bei mir, «not in my backyard» (nimby).» Die Anzahl von Einsprachen hat massiv zugenommen.
Und wenn man endlich bauen kann, ist es viel teurer?
Bevor man Neues baut, muss Altes weichen. Das kostet. Das Neue wird dichter und höher gebaut – auch das kostet mehr. Und noch teurer wird es, wenn Gebäude denkmalgeschützt sind, wie dies in vielen Orten der Fall ist.
Welchen Einfluss haben die tiefen Zinsen?
Die sind bei den Eigenheimen ein wichtiger Preistreiber, jedoch langfristig weniger wichtig als die neue Raumplanung. Aber es ist natürlich ein massiver Unterschied, ob die Zinsen wie hierzulande bei derzeit ungefähr 1,5 Prozent für 10-jährige Festhypotheken liegen oder wie in England bei über 5 Prozent.
Was sind aktuell die Folgen dieser Wohnkrise? Wer gewinnt, wer verliert?
Gewinner sind erstens die älteren Wohneigentümer, die in der Regel vor längerer Zeit gekauft und von den Preisanstiegen profitiert haben, in anderen Ländern noch viel ausgeprägter, zweitens Mieter, die schon länger die gleiche Wohnung haben, staatlich regulierte Bestandesmieten zahlen und so von subventionierten Mietzinsen profitieren. Und drittens Genossenschafter, manche vererben die Genossenschaftswohnung sogar.
Und die Verlierer?
Alle, die neu in den Markt einsteigen müssen und deshalb stark gestiegene Eigenheimpreise oder hohe Marktmieten, keine subventionierten Bestandesmieten, zahlen. Verlierer sind also die Jungen; für jede neue Generation wird es schwieriger. Das sind alle, die ausziehen müssen. Und es sind die Zuwanderer. Klar, man kann sagen, sie hätten die Wahl und müssten nicht kommen, aber wenn sie einmal hier sind, zählen sie zu den Verlierern.
Es ist also keine generelle Wohnungskrise, die alle trifft?
Nein, es ist ja nicht so, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich den Wohnraum nicht mehr leisten kann. Es trifft die Jungen hart, die Umzieher und die Zuwanderer. Sie tragen die Folgen der Verknappung, die mit dem Paradigmenwechsel eingesetzt hat.
Wo führt das hin?
Es wird schwieriger zu bauen, schwieriger eine bezahlbare Wohnung zu finden. Ich befürchte, dass Obdachlosigkeit, die in der Schweiz heute praktisch inexistent ist, in 15 Jahren ein Problem werden wird. Ausser es gelingt eine Änderung der momentanen Politik.
Und für die Jungen?
Einige junge Leute werden sich das nicht mehr leisten können. Sie leben in Wohngemeinschaften oder bei den Eltern, viel länger als sie es früher gemacht haben. In England ist das massiv. In den letzten Jahren hat die Anzahl von jungen Leuten, die zu Hause leben, um eine Million zugenommen. Ich nehme an, dass das auch hier in den nächsten Jahren passiert.
Die Jungen verlieren ohne eigenes Verschulden. Wie passt das zu einer angeblichen Leistungsgesellschaft?Schlecht. Es ist, als würde ein ungeschriebener gesellschaftlicher Vertrag langsam infrage gestellt: dass man mit dem ersten richtigen Lohn eine vernünftige Einsteigerwohnung mieten kann. In England war es die Möglichkeit, eine Wohnung kaufen zu können. Dort ist dieser Vertrag gebrochen, die jungen Leute können sich das nicht mehr leisten.
Kann das eine Erklärung sein, warum heute Parteien an den politischen Rändern auf dem Vormarsch sind?
Also ich würde jetzt nicht sagen, dass das Wohnen der einzige Grund ist. Dafür gibt es sicher viele Gründe, wie etwa das Aufkommen sozialer Medien. Aber ich würde es unterschreiben, dass die Wohnkrise mit eine Rolle spielt.
Ist hierzulande im internationalen Vergleich besonders viel schiefgelaufen?
Nein, ich würde sagen, dass das Problem in vielen anderen Ländern und Grossstädten deutlich schlimmer ist. Schauen Sie sich etwa die realen Immobilienpreise von Grossbritannien an. Der Anstieg ist viel extremer. Was in der Schweiz passiert ist, ist dagegen fast vernachlässigbar.
Was machen wir besser oder weniger schlecht?
Ich denke, die Schweiz hat den Mieter- wie den Eigentümermarkt verhältnismässig gut reguliert. Hier wird zum Beispiel viel mehr gebaut als in England, pro Kopf der Bevölkerung etwa doppelt so viele Wohnungen. Natürlich hat die Schweiz ihre Probleme, die sie angehen muss, aber zugleich muss sie aufpassen, dabei nicht Gutes schlechter zu machen.
Wie zum Beispiel?
Die Anbindung bestehender Mieten an Zinsen und Kosten funktioniert insgesamt gut. Besser als das englische System, bei dem Vermieter nach einem Jahr machen können, was sie wollen. Vermieter können dort von einem Tag auf den anderen 50 Prozent mehr verlangen.
Würde eine Deckelung der Mieten helfen?
Wenn man den Weg von Basel-Stadt und Genf befolgt, sehe ich schwarz. Das wäre tragisch. Dann wird man aufhören zu bauen oder bestehende Wohnungen zu unterhalten, weil es keine Anreize mehr gibt. Damit wird es zwar kurz- und mittelfristig tendenziell besser für alle, die eine Wohnung haben. Aber noch schwieriger für alle, die neu auf den Markt müssen, also vor allem für die Jungen.
Was halten Sie von der Abschaffung des Eigenmietwertes?
Ich bin dagegen. Es gibt unter dem Strich keinen klaren Grund, Wohneigentum staatlich zu fördern. Das aktuelle Steuersystem tut dies nicht, es ist relativ neutral. Mit der Abschaffung wäre es dies nicht mehr, es würde Wohneigentum fördern – also subventionieren.
Ist es nicht gesellschaftlich wünschenswert, dass viele Menschen ihr Zuhause selbst besitzen?
Das wäre es, wenn Wohneigentum eindeutig mehr positive als negative Nebenwirkungen für die Gesellschaft hätte. Es hat beides. Eigentümer engagieren sich zum Beispiel mehr in ihren Gemeinden. Sie sind aber auch eher «Nimbys», also Menschen, die sich gegen Neubauten in ihrem Hinterhof wehren.
Wegen dieses Widerstands hat das Magazin «Economist» geschrieben, die staatliche Förderung von Wohneigentum sei der «grösste wirtschaftspolitische Fehler des Westens».
Das scheint mir übertrieben. Auf jeden Fall wissen wir nicht, ob die positiven oder die negativen Nebenwirkungen überwiegen. Deshalb sollte der Staat neutral bleiben. Das ist er zurzeit in der Schweiz.
Sollten wir die Hypothekenvergabe weniger streng regulieren, damit junge Familien eher eine Chance haben?
Diese Regulierungen sind in der Tat streng. Aber wenn man diese Regeln nicht hätte, wäre die Nachfrage noch viel höher. Und da das Angebot zunehmend beschränkt ist, würden die Immobilienpreise noch mehr steigen. Ich weiss, die Regeln sind nicht beliebt, aber sie machen Sinn.
Wenigstens bedeutet die Baukrise, dass wir keinen Crash haben werden?
Ich sage nicht, dass die Preise in fünf Jahren nicht tiefer sein können. Das hängt auch von der Nachfrage ab, von der Weltwirtschaft, der Ukraine, Trump, der Zuwanderungsinitiative et cetera. Das kann ich nicht vorhersagen. Aber was ich sagen kann: Die Gefahr eines Preis-Crashes sollte nicht unsere grösste Sorge sein. Wir sind heute so aufgestellt auf der Angebotsseite, beim Bau, bei der Raumplanung, dass die Preise und die Mieten weiter steigen werden. Es wird eher noch schlimmer.
Würde es helfen, die Zuwanderung zu beschränken?
Mit der Zuwanderung steigt die Nachfrage. Vermutlich vor allem auf dem Mietmarkt, weil Zuwanderer erst mieten. Aber sie sind der falsche Sündenbock. Wichtiger ist das beschränkte Angebot, der Paradigmenwechsel in der Raumplanung. Dann kommen die steigenden Einkommen, die Bereitschaft, mehr fürs Wohnen auszugeben, und die tiefen Zinsen.
Die Beschränkung würde weniger bringen als anderes, aber es würde etwas bringen?
So wie eine schwere wirtschaftliche Rezession etwas bringen würde. Wenn wir es wie Trump machen und uns abschotten, dann geben wir die Grundlagen unseres Wohlstands auf. Ohne diese Offenheit werden ganze Industrien nicht hier angesiedelt oder mit der Zeit verkümmern. Die Nachfrage nach Wohnraum sinkt zwar, aber nur, weil unser Wohlstand sinkt.
Also bleibt nichts anderes, als die 2013 erfolgte Revision des Raumplanungsgesetzes rückgängig zu machen?
Das wäre eine Option. Dann hätten wir vermutlich wieder mehr Zersiedlung, was auf Dauer nicht gut gehen kann. Ich würde dazu raten, die Verdichtung irgendwie hinzubekommen. Bei der Raumplanung würde ich keine neuerliche Kehrtwendung machen, sie aber weniger streng handhaben. Es ist problematisch, wenn Agglomerationen gar nicht mehr nach aussen wachsen können. Ebenso sollten wir offener dafür sein, den Denkmalschutz zu lockern und den Lärmschutz. Und wir müssen den Widerstand gegen dichtes Bauen überwinden.
Wie das?
Das ist die grosse Frage ohne die perfekte Antwort. Wien und Singapur sind gut in der Verdichtung, aber bei ihnen ist viel Land im Besitz der Stadt oder des Staats. Bei uns nicht und Enteignungen sind rechtsstaatlich äusserst problematisch. Theoretisch müssten wir die Verlierer entschädigen, also meist Menschen nahe des Neubaus. Aber in der Praxis haben wir dafür noch keinen Mechanismus gefunden.
Weil das Geld für Entschädigungen fehlt?
Das wäre vorhanden. Wenn man auf einem Stück Land höher bauen darf, entsteht ein Mehrwert. Davon könnte man den Geschädigten etwas geben. Es bleiben jedoch viele ungelöste Fragen. Wie hoch ist der Mehrwert? Wer soll entschädigt werden? Mit wie viel Geld?
Wegen solch technischer Fragen lässt sich der Widerstand nicht überwinden?
Letztlich muss die Bevölkerung wissen, was sie wirklich will. Viele wollen Verdichtung unbedingt, aber für andere. Selbst wohnen sie auf dem Land, weit ausserhalb der Stadt. Wenn niemand die Verdichtung für sich selbst will, dann wird es schwierig.