Urs Altermatt (83) gilt als Doyen der Bundesratsexperten. Er ist Herausgeber des Bundesratslexikons und kommentierte ab 1983 die Bundesratswahlen auf SRF. Altermatt ist emerierter Professor für Zeitgeschichte an der Uni Freiburg. Von 2003 bis 2007 war er ihr Rektor.
Wer wird am 12. März in den Bundesrat gewählt: Der Nationalrat Markus Ritter oder Regierungsrat Martin Pfister?
Urs Altermatt: Stand heute erwartet uns ein enges Rennen, im Moment liegt es gemäss vielen Aussagen bei 50:50. Martin Pfister hat aufgeholt. Die Räte stehen vor der Wahl von zwei Persönlichkeiten, die sich deutlich unterscheiden: einerseits der zuweilen laute Draufgänger und andererseits der ausgleichende Konsenspolitiker. Beides sind erfahrene Politstrategen.
Was entscheidet diese Wahl?
Die Bundesratsgeschichte zeigt: Bei Zweiertickets kommt die Wahl rascher zustande, wenn im ersten Wahlgang keine taktischen Manöver stattfinden.
Sprengkandidaten sind heikel?
Ja. Bei einem Zweierticket hängt sehr viel davon ab, wie viele Stimmen ein Kandidat im ersten Wahlgang erhält. Die Mobilisierung der eigenen Anhänger ist entscheidend. Die Frage ist: Wer hängt den Konkurrenten im ersten Wahlgang deutlich ab? Unentschiedene neigen oft dazu, ihre Stimme dem Sieger des ersten Wahlgangs zu geben.
Sie kennen Martin Pfister persönlich. Wie charakterisieren Sie ihn?
Martin Pfister war bei mir an der Universität Freiburg in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre am Institut für Zeitgeschichte als Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Das liegt 30 Jahre zurück. Ich habe ihn als tüchtigen, mit Bedacht und ruhig handelnden Mitarbeiter erlebt, der sich in mein Team bestens einfügte. Dass er im «SonntagsBlick» jetzt einen ausführlichen Drei-Punkte-Plan für die Armee vorgelegt hat, charakterisiert ihn gut. Markus Ritter kenne ich persönlich nicht und kann daher zu ihm nichts sagen.
Pfister oder Ritter müssen wohl das Verteidigungsdepartement VBS übernehmen. Es befindet sich in einer Krise.
Das VBS steckt zweifellos in einer schwerwiegenden Krise. Sie äussert sich in den Rücktritten von Bundesrätin Viola Amherd, von Armeechef Thomas Süssli, von Nachrichtendienstchef Christian Dussey und anderen Spitzenbeamten – sowie in einer Reihe von Pannen und Skandalen. Dabei darf man aber etwas nicht vergessen.
Was?
Die Missstände im und um das VBS hängen mit der neuen geopolitischen Lage zusammen, in der sich Europa seit dem Ukrainekrieg befindet. Das ist der Hintergrund. In Europa herrscht zum ersten Mal seit 1945 ein grosser Krieg an einer Frontlinie von Hunderten von Kilometern.
Wie stufen Sie die internationale Situation ein?
Wir befinden uns geopolitisch in der tiefgreifendsten Zeitenwende seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Ost- und Mitteleuropa in den Jahren 1989/1991. Und die neue amerikanische Politik, die Präsident Donald Trump gegenüber den traditionellen europäischen Alliierten betreibt, erschüttert, ja zerstört die bisherige europäische Sicherheitspolitik in fundamentaler Weise. Die transatlantische Allianz des Westens macht schwerste Turbulenzen durch.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Europa ringt um eine neue Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Auch die Schweiz. Was passiert, wenn die Nato-Staaten das Verteidigungsbudget auf drei Prozent des Bruttoinlandprodukts erhöhen, während unser Land bis 2032 ein Prozent vorsieht? Was, wenn sich eine Art europäische Verteidigungsgemeinschaft bildet? Laut Presseberichten herrscht in der Kollegialregierung eine Vertrauenskrise, die seit der Corona-Krise schwelt und sich nun an Problemen des VBS hochschaukelt. In anderen Ländern spricht man in solchen Fällen von Regierungskrisen. Auch in der Schweiz verbirgt sich hinter den Missständen in und um das VBS eine Vertrauenskrise. Vielleicht ist es auch eine Krise der Zauberformel.
Was sollte der Bundesrat jetzt tun?
Am 12. März wählt die Bundesversammlung grundsätzlich ein Regierungsmitglied und nicht einen Departementsvorsteher. Das ist eine Binsenwahrheit. Dieses Mal ist die Departementsverteilung allerdings kein «business as usual». Es ist nirgends vorgeschrieben, dass der neue Bundesrat in die Fussstapfen der zurückgetretenen Bundesrätin treten muss. Warum kann nicht ein erfahrenes Bundesratsmitglied das VBS bis 2027 übernehmen? In der Bundesratsgeschichte hat das Kollegium Schwierigkeiten in Departementen öfters mit Rochaden gelöst. Und das VBS ist in den letzten drei Jahren zu einem Schlüsseldepartement aufgestiegen.
VBS-Vorsteherin Viola Amherd hat am 15. Januar überraschend ihren Rücktritt per Ende März verkündet. Waren Sie auch überrascht?
Der Zeitpunkt des Rücktritts kam für mich wie für die Medien völlig überraschend. Dass auch das Kollegium und die Parteileitung von Bundesrätin Amherd erst im letzten Moment informiert wurden, war das Aussergewöhnliche an diesem Rücktritt. Ich las in der «NZZ am Sonntag», dass Viola Amherd schon länger Meinungskonflikte mit der Vorsteherin des Finanzdepartementes gehabt habe. Ob Bundesrätin Amherd wegen der Pannenserien im Departement, der Pressegeschichten, der Indiskretionen oder wegen internen Machtkämpfen im Bundesrat und andern Gründen zurücktrat, weiss ich nicht. Ich habe den Eindruck, dass Bundesrätin Amherd im Bundesrat einsam wurde.
Wie beurteilen Sie die Bilanz von Viola Amherd?
Zweifellos überschatten die negativen Schlagzeilen die gegenwärtige mediale Bewertung. Bundesrätin Amherd brachte zwar den Kampfjet F-35 unerwartet in der Volksabstimmung durch. Aber sie bekam die sich steigernden Probleme im VBS nicht in den Griff. Nach Presseberichten verschlechterte sich auch ihre Zusammenarbeit in der Kollegialregierung. Das ist die Minusseite, die gegenwärtig in den Medien vorherrscht. Aus grösserer zeitlicher Distanz wird wahrscheinlich eine etwas differenzierte Erzählung in den Geschichtsbüchern stehen.
Wie wird sie aussehen?
Vermutlich wird die VBS-Krise stärker in den Zusammenhang gestellt mit den Umstürzen und Brüchen in Europa nach Putins Angriff auf die Ukraine und nach dem Zerfall der bisherigen europäischen Friedensordnung. Die europäischen Länder schlitterten nach 2022 in eine kolossale Sicherheitskrise und sind auf der mühsamen Suche nach einer gemeinsamen Verteidigungsgemeinschaft. Die vielen VBS-Pannen reflektieren die Probleme, die die Schweiz – Bundesrat, Parlament und Volk – hat, um ihren Platz und die Rolle des Landes in Europa und der Welt zu finden.
Viola Amherd hat sich immer für eine Annäherung an die Nato und die EU ausgesprochen.
Bundesrätin Amherd gehört zu jenen Bundesratsmitgliedern, welche die geopolitischen Warnsignale gehört haben. Sie versuchte, die Verteidigungsfähigkeit zu verbessern und das Armeebudget zu erhöhen. Sie verstärkte auch die Öffnung in Richtung Nato, was nicht allen passt.
Welche Bedeutung hat die Bürgenstock-Konferenz aus historischer Sicht?
Sie brachte nach meinem Dafürhalten die Schweiz in Europa und im Süden des Globus symbolisch wieder positiv ins Gespräch. Das war eine Art Marketing-Kompensation für die nicht überall verstandene Neutralitätspolitik bei den Waffenlieferungen. Bis die Schweiz wieder 57 Staats- und Regierungschefs auf einem einzigen Bild vereinen kann, wird es wohl lange dauern. Das Gruppenbild, auf dem Viola Amherd schaut, ob alle Staatschefs da sind, ist eine Ikone.
Sprechen wir über die Mitte. Präsident Gerhard Pfister kündigte seinen Rücktritt neun Tage vor Amherd an. Seither sind in der Partei viele Gräben aufgebrochen.
Auch Gerhard Pfisters Rücktrittsankündigung am Dreikönigstag kam überraschend. Der Rücktritt schuf unerwartet ein Vakuum in der Parteiführung. Das erschwerte die Moderation des Parteipräsidenten bei der innerparteilichen Kandidatenauslese. Vor allem auch deshalb, weil die Medien nach Amherds Demission Pfisters Rücktritt als Vorspiel für die Bundesratswahl interpretierten.
Nur: Ein Präsident kann nicht gleichzeitig Bundesratskandidat sein.
Die Geschichte zeigt, dass es schwierig ist, Moderator und gleichzeitig selbst Kandidat zu sein. Das geht in der Regel nur – wie etwa im Fall von Doris Leuthard -, wenn die Parteipräsidentin unbestritten ist. Daran scheiterte schon mancher Parteipräsident. 1959 verlor der mächtige SP-Präsident Walter Bringolf die Wahl in der Bundesversammlung. Er musste Hans-Peter Tschudi den Vortritt lassen. Das Beispiel von Gerhard Pfister zeigt, dass es offensichtlich nicht genügt, Medien- und Publikumsliebling zu sein.
Pfister machte schnell klar, dass er nicht für den Bundesrat kandidiert.
Da war es schon zu spät. Es begann das spektakelreiche Trauerspiel der Mitte mit über 20 Spielern. Einzelne besetzten Haupt- und Nebenrollen, viele waren Statisten. Jedes lokale Medium wurde zur Hilfsregisseurin der Wahl und portierte seine Kandidaten. In der Innerschweiz landete fast jedes Mitte-Mitglied einer Kantonsregierung auf der Kandidatenliste. Nach Markus Ritters Kandidatur wartete man zuletzt noch auf Ständerätin Andrea Gmür. Als sie absagte, stieg der Zuger Regierungsrat Martin Pfister als «Ehrenretter» ins Rennen. Früher konnte er nicht zusagen – sonst wäre er zum Ladykiller geworden.
Wie gross ist der Schaden für die Mitte- Partei?
Nach dem Erfolg bei den Nationalratswahlen 2023 ist eindeutig ein Imageschaden entstanden. Einen dauernden Parteischaden, so meine ich, sollte es nicht geben, sofern die Partei bei der Besetzung des Präsidiums klug vorgeht. Der Prozess der Wahl des neuen Präsidenten ist richtungsweisend, um die Partei wieder zu einen.
Wie sollte die Mitte vorgehen?
Sie muss das neue Parteipräsidium mit letzter Sorgfalt aufstellen. Dieses sollte meines Erachtens jünger und vielleicht auch femininer werden. Es braucht die Generation der 40-Jährigen. Und nach dem Führungsstil des bisherigen Präsidenten, der zum Alleingang neigte, braucht es jemanden mit hoher Konsens- und Sozialkompetenz.
Im Vordergrund steht Fraktionschef Philipp Matthias Bregy?
Das stimmt. Fraktionspräsident Bregy gehört allerdings zur älteren Generation. Er sollte er sich eine jüngere Frau an seine Seite holen, mit der er harmoniert. Eine Doppelspitze.
Hat die Mitte nach dem Chaos bei der Amherd-Nachfolge noch eine Chance, 2027 einen zweiten Bundesratssitz zu gewinnen?
Um diese Frage zu beantworten, braucht es das grössere Bild. Jede Partei, die im siebenköpfigen Bundesrat nur ein Mitglied hat, hat ein Handicap. Das Bundesratsmitglied verfügt in der Landesregierung über keinen Parteigenossen als Partner. Das ist in einer kollegialen Koalitionsregierung ein Nachteil. Es verbraucht viel zusätzliche Energie, um Mehrheiten zu finden. Ist der vertrauliche Austausch mit einem anderen Kollegen nicht möglich, wird das Bundesratsmitglied zum Einzelkämpfer, vereinsamt und traut niemandem mehr.
Das scheint bei Viola Amherd der Fall gewesen zu sein.
Einiges deutet darauf hin. Im Falle der Mitte kommt aber eine weitere Frustration hinzu.
Welche?
Die Mitte war in den Nationalratswahlen von 2023 minim – 0,2 Prozent – schwächer als die FDP, sie ist aber in der Bundesversammlung mandatsmässig eindeutig stärker. Zudem darf man nicht vergessen, dass SVP-Nationalrat Christoph Blocher 2003 mit Unterstützung von Freisinnigen in den Bundesrat gewählt wurde. Das hatte die Abwahl von Ruth Metzler zur Folge. Die Mitte kann den verlorenen Bundesratssitz nur mit Alliierten zurückholen. Die Geschichte zeigt, dass die Vorgängerpartei, die CVP, dafür ungewöhnliche Wege beschritt: Sie ging eine Wahlallianz mit der Linken ein. Es besteht eine gewisse historische Parallele zu den 1950er Jahren.
Sie sprechen die Entstehung der Zauberformel von 1959 an?
Genau. Weil die CVP schon damals ungefähr gleich stark wie die FDP war und trotzdem regelmässig einen Sitz weniger bekam, fühlte sich der damalige CVP-Generalsekretär Martin Rosenberg diskriminiert und verbündete sich mit der SP. Auf diese Weise erreichte die Partei die Gleichstellung mit der FDP und kam 1959 zu zwei Sitzen. Die SP erhielt nach Zwischenetappen bei den gleichen Wahlen ebenfalls zwei Bundesratssitze.
Sie glauben, dass sich die Geschichte wiederholt?
Ich vermute, dass die Mitte-Partei wieder in eine solche Phase rutscht. Die Freisinnigen können sich allerdings retten, wenn sie mit der Mitte ein Gentleman-Abkommen schliessen.
Wie sollte dieses aussehen?
Es sieht vor, dass die FDP mit der Mitte rotiert. Das heisst konkret: Die FDP verzichtet 2027 zugunsten der Mitte auf einen Bundesratssitz – mit der Abmachung, dass die Mitte diesen bei der nächsten Vakanz zurückgibt. Auf diese Weise lässt sich weiterhin eine bürgerliche Mehrheit im Bundesrat beibehalten. Sonst riskiert die FDP, dass die Mitte in einer Allianz mit den Sozialdemokraten die Grünen unterstützt. Dann würde sich eine Mitte-Links-Koalition als Mehrheit im Bundesrat etablieren.
Nur: 2027 drängen vor allem die Grünen in den Bundesrat.
Die Mitte könnte den Grünen ein Zwischenangebot machen: Zunächst wählt das Parlament einen zweiten Mitte-Bundesrat und erweitert dann die Regierung auf neun Mitglieder. Damit gäbe es eine neue Zauberformel – mit den Grünen. Aber das ist alles Spekulation.
Wie wärs mit Kuhhandel, Hinterzimmergemauschel und Buebentrickli?
Oder läuft auf der selben Schiene, Korruption einfach Lobbyismus zu nennen?