Sie haben mit Ihrer Forderung nach einem Stopp des milliardenteuren Bahnausbaus enorm viele Reaktionen ausgelöst. Heftiger Widerspruch kam aus dem Bundesamt für Verkehr. Haben Sie das erwartet?
Benedikt Weibel: Die Gruppe, mit der wir die Vorschläge ausgearbeitet haben, ist sehr erfreut über das grosse Echo. Es war ja unser Ziel, eine Debatte auszulösen! Zum Teil gab es Missverständnisse, die wir auf unsere Kappe nehmen - so kam vielleicht zu wenig zum Ausdruck, dass wir Ausbauten nicht generell stoppen wollen. Ich habe in diesen Diskussionen aber auch vieles gelernt darüber, was sich in den vergangenen Jahren in der Bahnpolitik in die falsche Richtung bewegt hat.
Was ist Ihre Erkenntnis?
Die Bahnreform, welche die Schweiz 1999 umgesetzt hat, ist unterlaufen worden. Wenn es um Ausbauschritte geht, bestimmt der Bund. Die SBB vollziehen dann bloss nach.
Man ist hinter die damalige Bahnreform zurückgefallen?
In einem zentralen Punkt ist das so. Blenden wir zurück: 97 Jahre lang waren die SBB eine Anstalt des Bundes. Die Mitarbeitenden waren Bundesbeamtinnen und -beamte. Lohnskala, ein allfälliger Teuerungsausgleich und die Statuten der Pensionskasse wurden vom Bund festgelegt. Der Bundesrat wählte das oberste Führungspersonal. Als letzter Beamtenchef der SBB hatte ich regelmässig vor den Finanz-, Verkehrs- und Geschäftsprüfungskommissionen anzutreten. Budget und Rechnungen mussten von den eidgenössischen Räten genehmigt werden.
Dann kamen die 1990er-Jahre und Europas Bahnmarkt wurde teilweise liberalisiert.
1991 gab die EU mit einer Richtlinie den Takt für die Entwicklung der Bahngesellschaften der Gemeinschaft vor. An erster Stelle stand die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Geschäftsführung der Bahnunternehmen. Das Postulat wurde von Bundesrat und Parlament übernommen und gipfelte in der Auslagerung der SBB in eine spezialgesetzliche Aktiengesellschaft, welche im Rahmen der Bahnreform 1999 umgesetzt wurde.
Sie waren nicht mehr Beamtenchef, sondern plötzlich Vorsitzender der Geschäftsleitung der SBB AG.
Die Reform wollte, dass mit den Mitteln haushälterisch umgegangen wird. In der Botschaft zur Vorlage hiess es: «Die Lage der Bundesfinanzen, die stagnierende Konjunktur sowie die Strukturprobleme der schweizerischen Wirtschaft akzentuieren die Probleme des öffentlichen Verkehrs. Die Bahnreform soll einen effizienteren Einsatz der für den Schienenverkehr bereitgestellten, knappen Mittel ermöglichen. Ein neuer Verwaltungsrat ist zusammen mit dem Management für die unternehmerische Ausrichtung der SBB sowie für die Unternehmensführung abschliessend zuständig.»
Wurde der Bund quasi entmachtet?
Nein, er bleibt ja Eigentümer der SBB. Aber die Einflussnahme des Bundes wurde auf die Festlegung und das Controlling der strategischen Ziele des Bundesrates für die SBB AG eingeschränkt.
Wie kam es dazu, dass der Bund wieder mehr Kompetenzen übernommen hat?
Es liegt am Geld, das im öffentlichen Verkehr inzwischen in Fülle vorhanden ist. Damals war das unvorstellbar. Aber mit dem Fonds für die Bahninfrastruktur wurde eine stetig sprudelnde Einnahmenquelle geschaffen. Dass mit diesem Füllhorn auch gleich die abschliessende Zuständigkeit der SBB abgeschafft wurde, hat kaum jemand bemerkt. Gemäss Eisenbahngesetz «leitet und koordiniert das Bundesamt für Verkehr als Prozessführer die für die Ausbauschritte notwendigen Planungen». Die SBB wurden damit zum Planungsbüro des Bundesamts degradiert.
So wie vor der Bahnreform?
Es ist noch absurder: Heute sind nicht mehr wie zu Anstaltszeiten die Beamten der SBB für die Bahnplanung zuständig, sondern die Beamten eines Bundesamtes. Ohne Verantwortung zu tragen, steuert das Bundesamt für Verkehr massgebliche Angebots- und Kostenparameter der SBB. Die SBB können damit ihren im SBB-Gesetz vorgegebenen Grundauftrag nicht mehr erfüllen.
Welchen Auftrag meinen Sie?
Im SBB-Gesetz steht, die SBB seien nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen zu führen. Und weiter: «Sie erhalten die Eisenbahninfrastruktur in gutem Zustand und passen sie den Erfordernissen des Verkehrs und dem Stand der Technik an.» Das ist heute nicht mehr möglich. Mit anderen Worten: Ein zentraler Pfeiler der Bahnreform ist zerstört worden.