In der neusten PISA-Studie erreichen Schweizer Jugendliche in Mathematik 508 Punkte. Nur acht von 81 Länder sind besser, darunter sechs asiatische Länder. Was können wir von diesen lernen?
Andrea Erzinger: Diese Länder haben ein Bildungssystem, das leistungsorientierter ist und die Schülerinnen und Schüler müssen nach der Schule etwa für Hausaufgaben ein Vielfaches mehr Zeit aufwenden. Davon muss die Schweiz nichts abkupfern.
Weshalb?
Wir sind bereits eines der leistungseffektivsten Länder der Welt. Es gibt nebenschulische Beschäftigungen und Lebensbereiche, welche für Jugendliche zentral sind, die wir nicht opfern sollten.
19 Prozent der Schweizer Jugendlichen erfüllen aber die Mindestanforderungen in Mathematik nicht. Wie holt man diese ab?
Wenn wir dafür ein Patentrezept hätten, würden wir es schon anwenden. Aber man sieht, dass Schülerinnen und Schüler mit tieferem sozioökonomischen Status eine weniger gute Leistung erbringen. Wir müssen schauen, dass wir auch diese Jugendlichen abholen.
Spielt da ein akademischer Abschluss der Eltern eine Rolle – Stichwort Chancengleichheit?
Nicht nur der akademische Hintergrund spielt hier mit rein. Der sozioökonomische Status bei PISA berücksichtigt den sozialen, kulturellen und ökonomischen Hintergrund. Es sind also verschiedene Elemente, wie die finanzielle Situation der Familien, der höchste Bildungsabschluss, aber auch die berufliche Stellung der Eltern. Man kann auch ohne Akademiker-Eltern einen höheren sozioökonomischen Status erreichen.
Bei der Leseleistung schneidet die Schweiz besser ab als der OECD-Durchschnitt. Trotzdem bezeichnet die Studie 25 Prozent der Jugendlichen als «leistungsschwach». Heisst das, dass ein Viertel nicht lesen kann?
Nein. Es bedeutet, dass ein Viertel der 15-Jährigen das bei PISA definierte Kompetenzniveau zwei in Lesen nicht erreicht.
Und was bedeutet das konkret?
Ein Viertel der 15-Jährigen erreicht die Mindestkompetenzen nicht und ist demnach gemäss dem Grundbildungskonzept von PISA auf die Herausforderungen im Alltag und im Beruf in Zukunft unzureichend vorbereitet. Dieses Ergebnis erstaunt nicht. Ein vergleichbares Ergebnis sahen wir bereits bei PISA 2018. Auch damals hat sich gezeigt: Jene Schülerinnen und Schüler, die einen tiefen sozioökonomischen Status haben, haben eher eine tiefe Lesekompetenz. Dabei beobachteten wir auch eine Veränderung bei den Einstellungen und Emotionen der Schüler.
Die wäre?
Die Lesemotivation und Lesefreude der Jugendlichen nahm ab. Das Lesen ist in Bedrängnis geraten, weil vor allem das Lesen online zugenommen hat. Wir müssen wieder einen grösseren Spassfaktor am Bücherlesen vermitteln und nicht nur das schnelle Lesen von wenigen Sätzen online.
Die Jugendlichen lesen lieber kurze Memes auf TikTok oder Instagram.
Auch das ist in Ordnung, sollte aber nicht das Einzige sein, was man liest. Man darf das Bücherlesen nicht vernachlässigen.
Ist es nicht die Aufgabe der Lehrpersonen, die Begeisterung für Bücher zu vermitteln?
Die Schule macht sicher einen grossen Teil aus. Es gab bereits nach PISA 2000 einen Massnahmenkatalog, wie es Lesekompetenzen zu fördern gilt. Dazu gehört zum Beispiel der regelmässige Bibliotheksbesuch in Kindergarten und Primarschule. Aber es ist auch förderlich, wenn das Umfeld den Kindern vorliest oder Jugendliche zum Lesen animiert. Und: Autorinnen und Autoren müssen Bücher schreiben, die Jugendliche mitreissen.
Funktioniert unser Bildungssystem, wenn laut der Erhebung im Schnitt 20 Prozent der Jugendlichen in der Schweiz als «leistungsschwach» gelten?
In der Schweiz hat praktisch jeder Kanton sein eigenes Bildungssystem. Die mehrsprachigen Kantone haben teils sogar zwei. Wir sprechen also von ungefähr 29 unterschiedlichen Systemen. Ich würde sagen, man sieht mit den 75 Prozent der Jugendlichen, die genügend bis gut abschneiden, dass die Bildungssysteme funktionieren.
Und die anderen 20 Prozent fallen durchs System?
Ja, diese 20 Prozent fallen in den bei Pisa untersuchten drei Kompetenzbereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Leseleistung durchs System. Aber es gibt viele Kompetenzbereiche, die für eine erfolgreiche berufliche Zukunft ebenso zentral sein können, bei PISA aber vielleicht nicht untersucht wurden.
Seit 2015 haben sich in der Schweiz die PISA-Ergebnisse nur gering verändert. Gleichzeitig beweisen Studien, dass die Lebenszufriedenheit der Jugendlichen stark abgenommen hat. Wie ist das möglich?
Wir haben nicht nur in der Schweiz eine seit PISA 2018 reduzierte Lebenszufriedenheit festgestellt, sondern auch in anderen Ländern. Einige Untersuchungen haben das auch gesamtgesellschaftlich gezeigt. Die vergangenen vier Jahre waren eine grosse Herausforderung für alle. Und auch die Schülerinnen und Schüler müssen mit vielen Ereignissen zurechtkommen, mit denen wir nicht gerechnet haben.
Man spricht auch von einer Zeit der Multi-Krisen.
Ja, die Pandemie oder auch eine erneute Kriegssituation in Europa belasten viele Menschen. Die Schülerinnen und Schüler sind ein Abbild, wie es der Gesellschaft geht.
Werden die Jugendlichen genug aufgeklärt über Aktualitäten, damit sie das besser verarbeiten können?
Es gibt in der Schule Fächer, in denen solche Themen besprochen werden. Aber Aktualitäten sind auch etwas, das die Jugendlichen Zuhause thematisieren sollten, indem sie etwa mit den Eltern beim Nachtessen über das Weltgeschehen sprechen. Diese Auffangbecken sind zentral.
Bei 50% der Primarschulkinder ist Deutsch zu Hause nicht die Muttersprache. In Vorstädten kann der Anteil sogar bis 90% sein.
Man muss nun wahrlich keine Expertin sein, um daraus abzuleiten, dass dies der Hauptgrund für die mangelnde Sprachkompetenz ist.
Zumal es vergleichbaren Ländern mit ähnlich hohen Migrantenanteil (wie bspw Schweden) genau gleich ergeht.
Der Bund sieht das bspw. anders und verschickt schon seit Jahren frischgebackenen Eltern ein Kinderbuch nach Hause und klärt im beiliegenden Brief die Eltern in x Sprachen darüber auf, wie wichtig die Rolle der Eltern beim Lesenlernen ist.
Natürlich spielt der sozioökonomische Hintergrund eine Rolle, aber der Faktor Kind schon früh vors Tablet/Smartphone setzen, damit man sich selber nicht drum kümmern muss, spielt fast die grössere Rolle. Und da ist der Hintergrund sekundär - das tun zu viele Eltern.