Seit gestern ist die Ausstellung «Breaking the Silence» im Kulturhaus Helferei in Zürich eröffnet. Die gleichnamige NGO zeigt darin Fotos und Zeugenaussagen von israelischen Soldaten, die in der besetzten Westbank und im Gazastreifen Militärdienst leisteten.
Die Ausstellung wird von diplomatischen Misstönen begleitet: Der israelische Botschafter in Bern kritisiert die finanzielle Unterstützung, welche die Schweiz der NGO zukommen lässt. In den Augen der Regierung Netanjahu ist «Breaking the Silence» ein Haufen Nestbeschmutzer.
watson traf Yuli Novak, Executive Director von «Breaking the Silence», sowie ihren Mitarbeiter Shay Davidovich am Tag vor der Eröffnung im Kulturhaus Helferei zum Gespräch.
Herr Davidovich, wie kamen Sie zu «Breaking the Silence»?
Shay Davidovich: Bei einem Einsatz in der Westbank verfolgte ich mit geladenem Gewehr ein nacktes Kind. Danach fragte ich mich, was ich hier eigentlich mache. Ich fand keine Antworten. Wenn ich an den Wochenenden meiner Familie davon erzählte, merkte ich, dass sie es auch nicht wissen. So ähnlich geht es allen Soldaten, die zu uns kommen. «Breaking the Silence» will diese Kluft überbrücken und in der israelischen Gesellschaft eine ehrliche Debatte über die moralischen Kosten der Besatzung anstossen.
Was ist Ihre Motivation, nach Zürich zu kommen? Haben Sie in Israel resigniert?
Shay Davidovich: In keiner Weise, der Fokus unserer Arbeit liegt ganz klar in Israel. Gleichzeitig freuen wir uns über die Einladung in die Schweiz und die Möglichkeit, unsere Ausstellung hier zu zeigen.
Yuli Novak: Die Debatte über den Nahostkonflikt findet auch in der Schweiz statt. Egal wo, die Stimmen der Soldaten müssen gehört werden. Wir wollen zeigen, dass nicht alle Israelis mit der Besatzung, dem Siedlungsbau und mit dem Krieg in Gaza einverstanden sind. Es gibt einen anderen Weg. Das ist unsere Botschaft, wenn wir ins Ausland gehen.
Dennoch: Ist es schlau, sich mit dem Gang ins Ausland angreifbar zu machen? Letztlich gehört diese Debatte über die Besatzung nach Israel, nicht nach Zürich.
Yuli Novak: Wir sind uns bewusst, dass wir damit ein Risiko eingehen. Doch über Israel wird im Ausland viel Unwahres und Irrelevantes geschrieben. Wir finden, jede Diskussion sollte auf Fakten basieren. Dazu brauchen wir diese Aussagen der Soldaten. Ja, wir machen uns angreifbar. Aber es ist immer besser, wenn die Wahrheit draussen ist.
Was genau kritisieren Sie an der Besatzung? Verfehlungen einzelner Soldaten oder die offiziellen Einsatzregeln der Armee?
Shay Davidovich: Einsatzregeln ändern sich ständig. Im Fall des letzten Gazakriegs, um den es in unserem aktuellen Bericht geht, waren sie ungeheuer freizügig. Das waren keine Verfehlungen, sondern die Soldaten taten genau das, was ihnen befohlen wurde.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Yuli Novak: Sie müssen verstehen, wie die israelischen Bodentruppen operieren: Bevor sie in ein urbanes Gebiet im Gazastreifen vorrücken, werden die dort lebenden Bewohner gewarnt. Wir rufen sie an oder werfen Flyer ab und fordern sie auf, das Gebiet sofort zu verlassen. Darauf folgt die Zermürbungsphase mit massivem Artilleriebeschuss und Luftangriffen. Ziel sind offiziell die Hamas-Kämpfer, die sich unter der Zivilbevölkerung verstecken. Aber die Soldaten erzählen uns von einem weiteren Zweck: Spätestens jetzt würden auch die letzten verbleibenden Zivilisten begreifen, dass sie ihre Häuser verlassen müssen.
Das sind die freizügigen Einsatzregeln, die Sie kritisieren?
Yuli Novak: Ich komme dazu. Bevor ein Soldat auf eine Person schiesst, muss er normalerweise sicherstellen, dass sie die Absicht und die Möglichkeit hat, ihm oder seinen Kameraden Schaden zuzufügen. Im letzten Gazakrieg wurde diese Regel aufgehoben: Nach der Zermürbungsphase rückten die Bodentruppen vor und sollten auf alles schiessen, was sich bewegt. Denn gemäss der Einsatzregeln waren nach den Warnungen und dem Beschuss alle Zivilisten geflohen, folglich blieben nur noch Hamas-Kämpfer zurück.
Und die Soldaten hielten sich daran?
Yuli Novak: Nicht alle. Einer erzählte uns, dass sie ein Haus stürmten und dort 30 Personen vorfanden. Das waren natürlich keine Hamas-Kämpfer und natürlich wurden sie nicht erschossen. Der Punkt ist: Diese Soldaten taten das Richtige – aber unter Missachtung der Einsatzregeln.
Welch Ironie: Das waren die «Verfehlungen» Einzelner.
Yuli Novak: Das Problem sind nicht die Soldaten, sondern das System. Die israelische Armee setzt auf die sogenannte Dahiya-Doktrin, benannt nach einem Vorort Beiruts, der im zweiten Libanonkrieg 2006 dem Erdboden gleichgemacht wurde. Sie sieht vor, die zivile Infrastruktur des Feindes mit unverhältnismässigen Mitteln zu zerstören. Das soll die Bevölkerung schockieren und gegen die eigene Führung aufbringen. Die Armee spricht das offen aus. Wir taten es im Libanon und jetzt machen wir es alle zwei Jahre in Gaza.
Offensichtlich funktioniert die Doktrin nicht.
Yuli Novak: Vor ein paar Wochen sagte der Chef der israelischen Luftwaffe, das nächste Mal werde man einfach noch härter zuschlagen. Unabhängig davon, ob sie funktioniert oder nicht: Es kann nicht sein, dass unser Land nach solchen Regeln verfährt und so den Tod tausender Zivilisten in Kauf nimmt. Aber jetzt verstehen Sie, wo das Problem liegt. Diese Befehle kommen nicht von irgendeinem Offizier auf dem Feld, sondern von ganz oben. Die Dahiya-Doktrin stammt von Gadi Eizenkot, dem aktuellen Generalstabschef.
Letztlich liegt die Verantwortung dafür in der politischen Führung. Ich mag mich täuschen, aber ich glaube nicht, dass sich die Regierung Netanjahu für ihre Kritik interessiert.
Yuli Novak: Sie interessiert sich dafür, leider nicht so, wie wir es gerne hätten. Die politische Lage in Israel ist schwierig. Die Regierung hat uns in den vergangenen Tagen scharf angegriffen und Dinge gesagt, für die ich mich wirklich schäme. Wir würden das Ansehen Israels beschmutzen. Es stimmt, die Wahrheit ist in diesem Fall schmutzig. Aber eine Demokratie sollte ihre Soldaten nicht zum Schweigen bringen. Die Regierung muss ja nicht mit ihnen einer Meinung sein – interessanterweise wirft uns niemand vor, die Unwahrheit zu sagen. Aber zumindest zuhören sollte sie schon.
Wozu eigentlich? Die Regierung weiss doch genau, was in den besetzten Gebieten geschieht.
Yuli Novak: Nein, und viele andere Israelis wissen es auch nicht. Unsere Organisation heisst nicht umsonst «Breaking the Silence». Die Menschen wissen nicht, was in den besetzten Gebieten vor sich geht, weil die Soldaten darüber schweigen.
Ist es nicht naiv zu glauben, dass die Menschen ihre Einstellung ändern, sobald sie von der schmutzigen Realität der Besatzung erfahren? Sie dauert jetzt seit 1967 an und Israel hat die allgemeine Wehrpflicht. Viele müssen doch wissen, was los ist, auch wenn sie nicht darüber sprechen.
Yuli Novak: Da muss ich Ihnen widersprechen. Viele wissen es wirklich nicht. Ich diente fünf Jahre lang in der Luftwaffe und hatte keine Ahnung. Wir sind nicht so naiv zu glauben, dass das Wissen über die Zustände ausreicht, um die Besatzung zu beenden. Viele wollen es einfach nicht wissen. Es gibt viel Gleichgültigkeit in Israel, auch unter den Linken. Aber ohne die Menschen mit diesen unangenehmen Fakten zu konfrontieren, ist eine Veränderung nicht möglich. Zuhören ist erst der Anfang. Akzeptieren und Verantwortung übernehmen noch schwieriger. Wir lassen uns davon nicht entmutigen, aber wir müssen geduldig sein.
Shay Davidovich: Es geht zudem nicht nur um die Verschwiegenheit. Trotz der allgemeinen Wehrpflicht leisten nur etwa 50 Prozent der Israelis Militärdienst (arabische Israelis und Ultra-Orthodoxe sind davon befreit, Anm. D. Red.). Und von denen, die zur Armee gehen, dient nur ein kleiner Teil in Kampftruppen in den besetzten Gebieten.
Sie leben im liberalen Tel Aviv. Was denken ihre Freunde über ihr Engagement bei «Breaking the Silence»?
Shay Davidovich: Ich lebe in Tel Aviv, bin aber in Ariel in der Westbank aufgewachsen.
Unter den radikalen Siedlern?
Shay Davidovich: Sie wären überrascht, da gibt es nicht nur Radikale.
Und was denken sie über Ihre Arbeit?
Shay Davidovich: Keine Frage, ich habe viele Freunde verloren. Auch unter meinen ehemaligen Kameraden in der Armee, die dasselbe gesehen und gemacht haben wie ich, aber zu anderen Schlüssen kommen. Sie glauben, die Besatzung dient der Sicherheit Israels. Ich finde, die letzten 50 Jahre beweisen eher das Gegenteil.
Würden die vielen wunderbaren Moslems realisieren, dass ihr grösster Feind nicht Juden, andere "Westler" oder Antiislamisten sind, sondern die extremen Islamisten (politischer Islam), wäre schon sehr viel gewonnen.
Es ist in Israel nicht anders als in der Schweiz: Wer pro Israel und pro Schweiz ist, muss gegen die grössten Feinde beider Staaten hinstehen, gegen die Rechtsextremisten in beiden Staaten. Dass viele, welche gegen das südafrikanische Apartheidregime selbstverständlich hingestanden waren dies beim israelischen Apartheidregime nicht tun, zeigt die bisweilen unglaubliche Kraft der verblendenden Indoktrination.