Brian Henry Keller ist 28 Jahre alt und sitzt seit sechs Jahren in Gefängnissen. Er hat insgesamt eine längere Zeit hinter Gittern verbracht als in Schulen. In Haft attackierte er regelmässig das Personal, weshalb diese immer wieder verlängert wurde.
Heute Montag beginnt ein weiterer Prozess gegen ihn. Er muss sich wegen 32 Vorfällen in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies verantworten. Der schwerste Fall betrifft einen Aufseher, den Brian mit einem Glasbruchstück am Kopf getroffen hat. Die Splitter lagen in Brians Zelle, nachdem er randaliert hatte. Das Personal wollte danach die Zelle reinigen.
Diese Frage stellen Leserinnen und Leser regelmässig. Viele wundern sich, dass ein Straftäter in den Medien eine «Plattform» erhalte. Doch darum geht es nicht. Der Fall ist relevant, weil er aufzeigt, wie das Justizsystem in Extremsituationen an seine Grenzen kommt. Der Rechtsstaat muss sich daran messen lassen. Wie geht er mit gefährlichen Straftätern um? Wie bewahrt er dabei die Menschenwürde?
Brian verteidigt sich auf Instagram. Mit mutmasslich geschmuggelten Handys veröffentlicht er regelmässig Videos aus seiner Zelle. Er sagt, der Aufseher habe durch die Glasscherbe «nur ein blaues Auge» erlitten. Er selber sei viel stärker verletzt worden.
Man mache ihn zu einem Monster. «Selbst wenn ich ein Monster wäre - ich bin sicher kein Engel - kein Mensch darf so behandelt werden», klagt er. Damit meint er, dass er jahrelang zu Unrecht in Haft sitze. Seine Verteidiger argumentieren, er habe in einer Notsituation zugeschlagen.
Brian sucht die Öffentlichkeit mit seinen Onlinevideos und ausgewählten Interviews. Doch vor Gericht will er sich nicht erklären. Er hat sich von der Verhandlung dispensieren lassen.
Im Saal nimmt dafür sein Vater Max Keller Platz. Mit Verspätung erscheint auch seine Mutter.
Schon bei der letzten Verhandlung stellte Brian ein entsprechendes Gesuch. Als Begründung gab er den Medienrummel an. Damals lehnte das Gericht das Gesuch zuerst ab. Doch Brian weigerte sich, seine Zelle zu verlassen. Der Gerichtspräsident besuchte ihn darauf in seiner Zelle. Dabei kam er zum Schluss, dass es nicht verhältnismässig wäre, Brian mit Polizeigewalt vor Gericht zu bringen.
Heute sagt der Gerichtspräsident: «Das Gericht hätte Brian auch diesmal gerne angehört.» Doch da Brian dies ablehne, habe das Gericht nun auf das «ganze Rösslispiel» verzichtet. Damit meint er ein Polizeiaufgebot, das Brians Widerstand zu brechen versuche. Zudem habe Brian ohnehin das Recht, alle Aussagen zu verweigern. Deshalb habe das Gericht das Gesuch nun von Anfang an bewilligt.
Strafrechtsprofessor Jonas Weber beurteilt Brians Haftsituation. Er spricht vor Gericht als sachverständiger Zeuge. Sein Zwischenfazit lautet: Brians Haft habe «teilweise nicht Gesetzen und Konventionen entsprochen». Er bezieht sich auf die Zeit zwischen 2018 und 2022. Damals sass Brian in Einzelhaft.
Weber stuft Brians Fall als «gravierend» und «sehr problematisch» ein. Damit meint er dessen Haftbedingungen. Brian sei «vulnerabel». Deshalb gelte ein strenger Massstab für die Bewertung, ob der Häftling unmenschlich behandelt worden sei. Weber bejaht dies.
Er spricht von «menschenrechtlich verbotener Langzeit-Einzelhaft», weil drei Bedingungen erfüllt seien.
Weber meint, das Haftregime lasse sich nicht durch Brians renitentes Verhalten rechtfertigen. Er sagt: «Mehr soziale Kontakte wären möglich gewesen.» Die Bemühungen dafür stuft er als «unzureichend» ein.
Zudem kritisiert der Strafrechtsprofessor, dass keine anstaltsexternen Ärzte Brian untersuchten. In Einzelhaft wäre dies notwendig. Brian habe Misstrauen gegenüber den Ärzten geäussert. Doch die Institution habe deren Unabhängigkeit nicht in Frage gestellt, kritisiert Weber. Sein Fazit: «Auch die medizinische Versorgung hält menschenrechtliche Vorgaben nicht ein.»
Das Gutachten könnte bei der Beurteilung des Falls eine Kehrtwende bedeuten. Weber bestätigt als amtlicher Gutachter die Argumente von Brians Anwaltsteam.
Henning Hachtel ist Psychiater an der Basler Universitätspsychiatrie. Er kennt Brian nur von den Akten, weil dieser nicht mit ihm sprechen wollte. Hachtel diagnostiziert Brian eine «dissoziale Persönlichkeit mit psychopathischen Wesenszügen» sowie Erwachsenen-ADHS. In Haft sei er depressiv geworden.
Bei der letzten Gewalttat in Freiheit war Brian 21. Heute ist er 28. Nimmt sein Risiko für Gewaltstraftaten mit dem Alter ab? Diese Frage stellt der Richter dem Gutachter. Hachtel bejaht, dass dieses Risiko mit dem Alter tendenziell abnehme – «aber erst mit ungefähr 50 Jahren».
Ein aktueller Führungsbericht des Zürcher Bezirksgefängnisses erteilt Brian gute Noten. Seit fast zwei Jahren verhalte er sich höflich, halte sich an Absprachen und Termine und finde sich auch in grösseren Gruppen gut zurecht. Er könne auch ein Nein akzeptieren, wenn es sachlich begründet sei.
Nur einen negativen Vorfall erwähnt das Gefängnis: Am 13. Mai dieses Jahren fanden Aufseher bei einer Zellenkontrolle unterlaubte Gegenstände. Unter anderem stellten sie ein Mobiltelefon sicher. Darauf beschimpfte er das Personal und randalierte, allerdings verletzte er niemanden. Erst als sein Vater ihn besuchte, beruhigte er sich wieder.
Der Psychiater analysiert die Situation. «Der Vorfall zeigt, wie schnell ein gefährlicher Moment entstehen und die Situation eskalieren kann», sagt er. Generell könne man nicht von einem Wohlverhalten in Haft auf ein Wohlverhalten in Freiheit schliessen. Er bräuchte dafür ein Umfeld, das ihm rund um die Uhr wohlgesonnen sei. Brian könne sich inzwischen zwar anpassen, aber er sei jetzt kein ganz anderer Mensch. «Er wird immer mit seinen Triggerpunkten konfrontiert sein», sagt der Psychiater.
Brians Anwaltsteam hat dem Gericht ein Konzept für einen «Empfangsraum» vorgelegt. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis soll Brian demnach durch einen Sozialpädagogen begleitet werden, der ihn regelmässig besucht hat. Zudem ist ein strenger Trainingsplan vorgesehen. Zehn Stunden pro Tag will Brian trainieren. Denn: Er will Profiboxer werden. Das Sozialamt solle ihm eine Wohnung zur Verfügung stellen.
Psychiater Hachtel beurteilt das Konzept kritisch. Aus seiner Sicht wäre eine Begleitung durch einen Psychotherapeuten notwendig. Doch Brian lehnt dies ab. Das Konzept habe wenig «Fleisch am Knochen». Man müsste ein extrem intensives Setting aufbauen, meint der Psychiater. Doch intensiv sei nur das vorgesehene Boxtraining. Eine Entlassung wäre deshalb ein «grosses Experiment».
Staatsanwalt Ulrich Krättli beantragt eine Gefängnisstrafe von 9 Jahren und 7 Monaten. Er stellt fest, dass Brian seit 2019 nicht mehr mit ihm gesprochen habe. Dieser habe nicht nur die Aussage verweigert, sondern auch vehement den Gang zum Staatsanwalt. Selbst eine Befragung aus dem Gefängnis per Videoübertragung habe er abgelehnt. Stattdessen habe er im gleichen Raum später dem Schweizer Fernsehen ein Interview gegeben.
Was der Staatsanwalt nicht erwähnt: Auch auf Instagram äusserte sich Brian. Er zeigte ein Bild von sich mit angespanntem Bizeps. «FICK DEN STAATSANWALT UND DEN RICHTER», schrieb er dazu.
Der Staatsanwalt kritisiert das Gericht für die Gutheissung des Dispensationsgesuchs: «Brian ist zwingend zu seiner möglichen Zukunft in Freiheit persönlich anzuhören.» Derart wichtige Fragen sollten nicht in seiner Abwesenheit verhandelt werden. Auch seine Opfer müssten direkt aus seinem Mund erfahren, dass sie nichts von ihm in Freiheit zu befürchten hätten.
Zur Verletzung eines Aufsehers mit einem Glasbruchstück sagt der Staatsanwalt: «Es braucht keine überdurchschnittliche Intelligenz, um zu wissen, dass dadurch eine schwere Augenverletzung entstehen könnte. Das dürfte selbst einem kleinen Kind bekannt sein.»
++ Update folgt ++ (aargauerzeitung.ch)
Mehr als Sozialamt sehe ich da nicht.
Ist zwar günstiger als Gefängnis, aber halt leider auch sehr viel gefährlicher für die Gesellschaft.