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Frau in Schaffhausen verprügelt: Recherche zeigt neue Infos

Recherche wirft neues Licht auf die Prügelnacht in Schaffhausen

Im Dezember 2021 wurde Fabienne W. von mehreren Männern brutal verprügelt. Die Einschüchterungen und Schläge sollen gezielt erfolgt sein. Eine neue Recherche stellt das ursprüngliche Narrativ der SRF-Rundschau infrage.
30.05.2024, 17:22
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Das ist passiert

In der Nacht vom 28. auf den 29. Dezember 2021 wurde Fabienne W. von einem Anwalt in seine Schaffhauser Wohnung eingeladen und dort später von mehreren Männern eingeschüchtert und verprügelt. Dies zeigen nur schwer zu ertragende Aufnahmen von Überwachungskameras, welche die SRF-Rundschau am Mittwoch vor einer Woche veröffentlicht hat.

Zwölf Tage zuvor soll Fabienne W. nach einer Party von einem Mann vergewaltigt worden sein. Der Mann wiederum sagte gegenüber der Polizei, der Sex sei einvernehmlich gewesen. Fabienne W. hat Anzeige erstattet, die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen jedoch eingestellt. Eine Beschwerde von Fabienne W. ist hängig, für den Mann und die an der Prügelei beteiligten Personen gilt die Unschuldsvermutung.

Fabienne W. wird in der Wohnung des Anwalts von einem der Männer gewürgt und anschliessend brutal verprügelt.
Fabienne W. wird in der Wohnung des Anwalts von einem der Männer gewürgt und anschliessend brutal verprügelt.bild: screenshot srf

Im Bericht der «Rundschau» kommt Fabienne W. mehrfach zu Wort. Der Beitrag suggeriert, sie sei in die besagte Wohnung eingeladen worden, um davon überzeugt zu werden, von einer Anzeige gegen ihren mutmasslichen Vergewaltiger abzusehen. Der Bericht der «Rundschau» vermittelt auch den Eindruck, Fabienne W. könnte in der Wohnung erneut vergewaltigt worden sein.

Die «Rundschau» wirft der Schaffhauser Polizei und der Staatsanwaltschaft zahlreiche schwere Ermittlungsfehler vor. Unter anderem, was die medizinische Untersuchung von Fabienne W. nach der mutmasslichen Vergewaltigung und das Beschaffen von Aufnahmen der Überwachungskameras betrifft.

Die Polizei sollte auf Anordnung der Staatsanwaltschaft die Wohnung des Anwalts durchsuchen und Datenträger mit Aufnahmen der Überwachungskameras. Die Polizei filmte jedoch lediglich das Smartphone des Anwalts ab und dies erst noch ohne Ton. Auch ein zweiter Auftrag wurde gemäss «Rundschau» nicht sauber ausgeführt.

Das Urteil eines renommierten Strafverteidigers, der für SRF das Vorgehen der Polizei einschätzte, ist von A bis Z vernichtend.

Das Narrativ

Eine Woche nach dem ersten Bericht legte die «Rundschau» am vergangenen Mittwoch mit einem zweiten Beitrag nach. Darin greift sie den Fall nochmals auf. Sie berichtet über eine Demonstration von mehreren hundert Menschen, die in Schaffhausen auf die Strasse gingen und sich für Fabienne W. einsetzten.

Mehrere hundert Menschen gingen am vergangenen Samstag in Schaffhausen auf die Strasse.
Mehrere hundert Menschen gingen am vergangenen Samstag in Schaffhausen auf die Strasse.Bild: sc/twitter

Die «Rundschau» interviewte zudem eine Expertin für geschlechterspezifische Gewalt, die aussagt, dass die Geschichte von Fabienne W. kein Einzelfall sei.

Einen Tag später, am Donnerstag, publizierte die «Schaffhauser AZ» eine aufwendige Recherche zum Fall Fabienne W.

Die Schaffhauser Wochenzeitung hat die ganze Geschichte rekonstruiert, mit mehreren mutmasslichen Tätern der Prügelnacht gesprochen. Sie hat Rapporte, Einvernahmeprotokolle, medizinische Untersuchungsberichte und ungeschnittene Videoaufnahmen ausgewertet.

Die «AZ» relativiert das Geschehene nicht, kommt aber zum Schluss, dass das Narrativ der «Rundschau» kaum haltbar sei. Sie schreibt:

«Das Gesamtbild, das durch die verschiedenen Beweismittel entsteht, lässt die brutale Prügelorgie in einem anderen Licht erscheinen: nicht als Resultat eines kühl geplanten Hinterhalts – sondern als albtraumhaften Höhepunkt eines Rauschabends, der plötzlich völlig ausser Kontrolle geriet.»

Der Anwalt

Die Gewalttat fand in der Wohnung eines 40-jährigen Anwaltes statt. Diesen bezeichnet die Zeitung als «schillernde» Figur. Als erfolgreicher Jungunternehmer habe er in frühen Jahren viel Geld verdient.

Als «Stadtoriginal in der Schaffhauser Ausgangsszene» habe er Partys organisiert, in Bars Runden spendiert und regelmässig Fotos mit allen möglichen Personen auf soziale Netzwerke hochgeladen.

In seiner Wohnung in der Schaffhauser Altstadt – die einer Bar nachempfunden ist – hätten zeitweise fast täglich Partys stattgefunden. «Es war eine Halbwelt, ein Raum des Exzesses», schreibt die AZ.

Achtung: Die folgenden Bilder können verstörend wirken

Video: srf/rundschau

Die Zeitung berichtet auch von einem grossen Alkoholproblem, das der Anwalt Ende 2021 hatte. Teilweise sei er an Wochentagen bereits am Morgen betrunken und euphorisiert durch die Stadt gelaufen. Diverse Eskapaden hätten polizeiliche Einsätze zur Folge gehabt.

Dem Schaffhauser Radio Munot liegt ein Bericht zuhanden der Aufsichtsbehörde über das Anwaltswesen vor. Dieses stufte den Anwalt 2022 als ungeeignet für seine berufliche Tätigkeit ein.

Der Anwalt lud sehr regelmässig Bilder von sich und anderen Personen auf seine sozialen Netzwerke.
Der Anwalt lud sehr regelmässig Bilder von sich und anderen Personen auf seine sozialen Netzwerke.bild: screenshot srf

Gemäss dem Bericht hat der Anwalt unter anderem mehrfach gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen und er erschien sichtlich angetrunken bei einem Gerichtsprozess. Auch von einer Strafuntersuchung wegen Körperverletzung ist die Rede.

Ein Entzug des Anwaltspatentes durch die Aufsichtsbehörde ist nie erfolgt. Zum konkreten Fall äussern möchte sich die Behörde auf Anfrage von Radio Munot nicht. Sie verweist auf das Amtsgeheimnis.

Die Abweichungen

Anders, als es aus dem Bericht der «Rundschau» hervorgeht, ist Fabienne W. gemäss der AZ nicht vom Anwalt in seine Wohnung eingeladen worden, sondern von einem mit dem Anwalt befreundeten 24-jährigen Mann.

Fabienne W., eine Hobby-Musikerin, war davon ausgegangen, dass die Einladung mit ihrer Musik zusammenhänge. In der Vergangenheit hat der Anwalt gemäss «AZ» immer wieder Musikerinnen und Musiker finanziell unterstützt.

Den Anwalt hatte die damals 40-Jährige zuvor bereits gekannt. Sie war auch schon einige Male in seiner Wohnung gewesen. Auch den 24-Jährigen, der sie eingeladen hatte, hat Fabienne W. bereits mehrere Male getroffen.

Fabienne W. in der «Rundschau».
Fabienne W. in der «Rundschau».bild: screenshot srf

Die beiden waren zunächst alleine in der Wohnung. Danach gesellten sich der Anwalt und ein weiterer Mann dazu, etwas später zwei weitere Personen, eine Frau und ein Mann. In der polizeilichen Befragung sagte Fabienne W.: «Es war ein guter Abend und wir haben Filme angeschaut, die [der Anwalt und der Begleiter] zusammen gemacht haben.»

Gemäss dem Bericht der «Rundschau» habe der Anwalt Fabienne W. auf die von ihr erstattete Anzeige des mutmasslichen Vergewaltigers angesprochen. Sie habe gemerkt, dass der Anwalt den mutmasslichen Vergewaltiger juristisch beraten habe. Ihr habe der Anwalt geraten, von einer Anzeige abzusehen.

Diese Unterhaltung lässt sich nicht verifizieren. In mehreren Polizeibefragungen machte Fabienne W. gemäss «AZ» keine diesbezüglichen Aussagen.

Weil die Polizei die Aufnahmen der Überwachungskameras nicht gesichert hat, lässt sich der weitere Verlauf des Abends bis zu Beginn der gewalttätigen Übergriffe in den frühen Morgenstunden nicht rekonstruieren. Fabienne W. sagte gegenüber der Polizei, sie habe nur noch bruchstückhafte Erinnerungen.

In den frühen Morgenstunden ist die Situation in der Wohnung eskaliert.
In den frühen Morgenstunden ist die Situation in der Wohnung eskaliert.screenshot srf

Um ca. 1 Uhr in der Nacht stiess ein Nachbar des Anwalts zur Gruppe, es handelt sich um denjenigen Mann, der Fabienne später brutal verprügelte. Fabienne W. sagte in einer polizeilichen Befragung, sie hätte den 58-jährigen Waffensammler und ehemaligen Kampfsportler nicht gekannt.

Der «AZ» liegen Kameraaufnahmen von 3.18 Uhr bis 7 Uhr morgens vor. In dieser Zeit spielen sich in der Wohnung zahlreiche Situationen in unterschiedlichen Konstellationen ab.

Die Personen tanzen miteinander, es fliesst Alkohol, sie singen Lieder, sitzen Arm in Arm auf dem Sofa, filmen mit dem Smartphone. Fabienne W. verlässt zwischenzeitlich die Wohnung, kehrt jedoch zurück, weil sie ihr Handy vergessen hat.

Diese Rückkehr bezeichnet die «AZ» als Schlüsselszene. Sowohl der Anwalt als auch der Nachbar hätten in der polizeilichen Einvernahme ausgesagt, Fabienne W. sei nach ihrer Rückkehr «wie ein ganz anderer Mensch» gewesen.

Nach 5 Uhr eskaliert die Situation. Der Anwalt will, dass Fabienne W. die Wohnung verlässt, doch sie weigert sich. Der Nachbar mischt sich mehrmals in den Konflikt ein.

Es kommt zu körperlichen Auseinandersetzungen: Fabienne W. schlägt den Anwalt, der Nachbar wiederum hält sie später von hinten fest. Es fallen zahlreiche wüste Worte («Fick dich!», «Arschlöcher», «Verpiss dich jetzt!», «Du scheiss Hurensohn!»).

Gemäss «AZ» eskaliert die Lage immer mehr, gegen sechs Uhr beginnt der Nachbar, Fabienne W. zu würgen. Er sagt: «In zwei Minuten wirst du ohnmächtig.»

Sie schafft es sich loszureissen, versucht ihn zu kicken. Später versucht sie, erneut auf den Nachbar loszugehen, dieser schlägt sie mit einer Hand aufs Sofa, später schlägt er ihr mit der Faust ins Gesicht. Vor dem Faustschlag reisst ein anderer Mann sie an den Beinen herum. Die Bilder sind nur schwer auszuhalten.

Die Verletzungen von Fabienne W.
SRF Rundschau vom 22. Mai 2024.
Fabienne W. hat unter anderem ein Schädelhirntrauma ersten Grades erlitten.screenshot: SRF

Fabienne W. versucht mehrfach aufzustehen, einmal hebt sie einer der Männer hoch und wirft sie mit dem Kopf voraus brutal auf den Boden. Fabienne W. schreit und weint, auch später, als der Nachbar sie packt.

Als Fabienne W. den Nachbarn erneut zu kicken versucht, schlägt dieser sie mehrfach gegen den Kopf und in den Bauch. Offenbar hat sie den Fernseher des Anwalts kaputt gemacht, er sagt deswegen zum Nachbar: «Hau ihr eins in die Fresse!» Der Nachbar kickt Fabienne W. nochmals, schlägt sie erneut ins Gesicht. Sie sagt zu ihm unter anderem: «Du bist so eine ­motherfucking bitch, die jede Nutte fickt!»

Nach 6 Uhr verlassen alle das Wohnzimmer. Draussen auf der Gasse kontaktiert der 24-Jährige – er hat Fabienne W. ursprünglich eingeladen – die Ambulanz. Auch die Polizei trifft kurze Zeit später beim Tatort ein.

Ein Arzt des Zürcher Instituts für Rechtsmedizin stellt bei Fabienne W. als Folge der Prügelattacke ein Schädelhirntrauma ersten Grades und ein Brillenhämatom fest. Dazu Prellungen an den Armen, Hämatome und Prellungen am Knie. Fabienne W. hatte 2,05 Promille Alkohol im Blut, auch Rückstände von Kokain. Der Nachbar hatte einen Blutalkoholwert von 1,52 Promille.

Die weiteren Entwicklungen

Eine Woche nach dem ersten Bericht der «Rundschau» wird die Politik aktiv, wie die Schaffhauser Zeitung schreibt. Fünf Mitglieder des Kantonsrates wollen eine Interpellation einreichen, sie besteht aus elf Fragen. Diese soll der Regierungsrat beantworten und der Kantonsrat diskutieren.

Für das Vertrauen in die Schaffhauser Justiz und Polizei sei es unverzichtbar, dass die Öffentlichkeit umfassend über die Geschehnisse aufgeklärt werde, so die Politikerinnen und Politiker der jungen Grünen, der SP und der GLP.

Allenfalls müssten «Verbesserungen im Umgang der Strafverfolgungsbehörden mit sexualisierter Gewalt und Gewalt an Frauen umgesetzt werden».

Auf Nachfrage der «Rundschau» bekräftigte die Schaffhauser Staatsanwaltschaft, die bisherigen Ermittlungen seien korrekt abgelaufen.

Am Donnerstag hat der Schaffhauser Regierungsrat jedoch eine externe Untersuchung des Falles angekündigt. Diese soll durch einen unabhängigen Strafrechtsexperten erfolgen und sich ausdrücklich auf das Vorgehen der Polizei beschränken.

Eine externe Beurteilung der Strafuntersuchung, und damit der Arbeit der Staatsanwaltschaft in dem Fall, würde die Urteilsbildung der Gerichte nach Ansicht des Regierungsrats unzulässig beeinflussen. Die Strafuntersuchung soll jedoch «zeitnah» abgeschlossen werden.

Fabienne W. fühlt sich von den Strafverfolgungsbehörden bis heute im Stich gelassen.

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182 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Roli_G
30.05.2024 16:52registriert Januar 2021
So enorm anders ist das Bild jetzt aber auch nicht. Die Frau wurde verprügelt, gewürgt usw.
Die Täter sind ohne Konsequenzen davon gekommen, obwohl die Angelenheit über 2 Jahre her ist und wirklich genügend Zeit für eine Untersuchung verstrichen ist.
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L‘Xp
30.05.2024 16:57registriert Januar 2017
Und was soll jetzt anders sein als im ursprünglichen Rundschau Beitrag dargestellt? Zum dort berichteten fragwürdigen Vorgehen der Polizei konnte ich aus diesem Artikel keine Entkräftigungen lesen. Das der Fall eine höhere Komplexität hat als bisher bekannt ist war ja naheliegend und genau drum sind die Unterlassungen der Schaffhauser Polizei so erschreckend.
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Hierundjetzt
30.05.2024 16:42registriert Mai 2015
Mag alles sein.

Ändert nichts am Faktum, dass die Polizei absolut lächerliche Beweiserhebung macht. Schaffhauserpolizeisausbildung kann man glaubs im Munorettenland am Lottostand gewinnen. Neben dem Bratwursstand und dem Karussell.

Jede Law & Order Folge ist professioneller

Und darum wird dies auch ein Sonderstaatsanwalt untersuchen.
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