7 Quadratmeter, kein Fenster und kein Wasseranschluss, dafür ein Bett aus Beton: So sieht eine Zelle im Polizeiposten von Lausanne aus. Der Ort ist eigentlich nur für Aufenthalte von bis zu maximal 48 Stunden gedacht, bis die Häftlinge in ein reguläres Gefängnis überführt werden. Doch weil diese im ganzen Kanton überlastet sind, müssen Inhaftierte manchmal bis zu 49 Tage in der engen Zelle ausharren. Das machte im Januar die Besucherkommission des Waadtländer Kantonsparlaments publik.
Ihr Bericht warf ein neues Schlaglicht auf ein bekanntes Problem: Die Gefängnisse in der Romandie sind zum Bersten voll. Immer wieder kritisieren Menschenrechtsorganisationen oder jüngst die Anti-Folter-Kommission des Europarats die Situation. Sogar Russland stellte die Schweiz deswegen vor zwei Jahren vor dem UNO-Menschenrechtsrat an den Pranger.
Derzeit sind die Gefängnisse in der Waadt zu 114 Prozent ausgelastet – so stark wie in keinem anderen Kanton. Extremfall ist die Haftanstalt Bois-Mermet, die 100 Plätze hat, aber 166 Personen beherbergt. «Die Haftbedingungen sind in einigen Etablissements nicht mehr akzeptabel», gab der Waadtländer Sicherheitsdirektor Vassilis Venizelos (Grüne) am Montag vor den Medien zu.
Was sind die Gründe der chronisch überfüllten Gefängnisse, mit denen die Waadt seit 25 Jahren kämpft? Zwei wissenschaftliche Berichte im Auftrag des Kantons sind dieser Frage nachgegangen. Verfasst wurden sie vom renommierten Justizexperten Benjamin Brägger und dem Kriminologen Christophe Champod von der Universität Lausanne.
Die Arbeiten zeigen: In der Waadt landen Verdächtige besonders häufig in Untersuchungshaft. Sie dauert im Schnitt zudem zweieinhalb Mal länger als im Schweizer Mittel.
Auch wenn es zu einer Verurteilung kommt, sticht die Waadtländer Justiz heraus: Sie spricht die Haftstrafen oft unbedingt – also nicht auf Bewährung – aus. Allein bei Betäubungsmitteldelikten fällt ein Viertel aller in der Schweiz verhängten unbedingten Haftstrafen auf die Waadt. In Kantonen wie Zürich setzten Gerichte die Strafen häufiger auf Bewährung aus, so Benjamin Brägger.
Für die Waadtländer Behörden stellt die Bekämpfung des Drogenhandels eine Priorität dar. Brägger sieht darin einen von vielen Faktoren, der die überbordenden Gefängnisse in der Waadt erklären könnte. Hinzu kommen der wirtschaftliche Boom und die Nähe zu Frankreich, die die Region für Kriminelle attraktiv mache. Ebenso erwähnt er kulturelle Eigenheiten der Romandie. «Die staatliche Autorität hat einen höheren Stellenwert als in der Deutschschweiz», meint der in Freiburg wohnhafte Justizvollzugsexperte. Das schlage sich in der strengeren Strafverfolgung nieder.
Das will jedoch nicht heissen, dass Deutschschweizer Kantone vor der Problematik überfüllter Gefängnisse gefeit sind. Letzten April vermeldete das Bundesamt für Statistik, dass im Januar 2024 landesweit 6881 Frauen und Männer hinter Gittern sassen – so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Die Gefängnisse waren im Schnitt zu 95 Prozent ausgelastet. Seither ist die Quote wieder auf 91 Prozent gesunken, doch mehrere Kantone bewegen sich im kritischen Bereich. Zu ihnen zählen Solothurn (101 Prozent), Bern und Schaffhausen (beide 100 Prozent).
In den letzten dreissig Jahren gab es laut Brägger in Schweizer Gefängnissen immer wieder wellenartige Phasen mit erhöhter Auslastung. Aktuell sei das System unter Druck. Das hänge wohl auch mit Migrationsströmen und dem Bevölkerungswachstum zusammen. «Die Haftinfrastruktur wurde nur langsam angepasst. Gleichzeitig gibt es in der Politik und der Bevölkerung eine Erwartungshaltung, strengere Strafen auszusprechen.»
Überfüllte Gefängnisse sind auch deshalb ein Problem, weil sie laut Studien das Suizidrisiko von Insassen erhöhen können. Die «NZZ am Sonntag» berichtete erst kürzlich, dass die Suizidrate in den Schweizer Justizvollzugsanstalten im europäischen Vergleich hoch ist.
In der Waadt habe man diesbezüglich keine «alarmierende Situation», sagte der kantonale Sicherheitsdirektor Vassilis Venizelos. Aber es sei klar, dass verbesserte Haftbedingungen indirekt dazu beitrügen, «dramatische Situationen zu vermeiden».
Der Regierungsrat präsentierte einen Aktionsplan. Die Zahl der Haftplätze soll erhöht werden: Kurzfristig dank einer Kooperation mit dem Nachbarkanton Freiburg und dem Bau modularer Anlagen, langfristig dank der für 2032 geplanten Inbetriebnahme eines neuen Gefängnisses für 410 Insassen.
Unendlich neue Gefängnisse bauen, könne man aber nicht, ist sich Venizelos bewusst. Der Kanton Waadt versucht deshalb künftig, Alternativen zur Inhaftierung noch stärker zu forcieren. So können Haftstrafen von weniger als sechs Monaten unter gewissen Umständen in gemeinnützige Arbeit umgewandelt werden.
Bei Freiheitsstrafen zwischen zwanzig Tagen und zwölf Monaten ist zudem der Einsatz von Fussfesseln möglich, sofern die Häftlinge der Massnahme zustimmen. Venizelos will sich auf nationaler Ebene dafür einsetzen, die elektronische Überwachung künftig auch bei über einjährigen Haftstrafen zu legalisieren, wenn die Betroffenen kein Sicherheitsrisiko darstellen.
Laut Justizexperte Brägger liegt die Waadt bereits heute an der Spitze, was den Einsatz von Fussfesseln und gemeinnütziger Arbeit betrifft. Er führt dies auf den «grossen Handlungsdruck» zurück. Zumindest in diesem Punkt lohnt sich für andere Kantone also der Blick über den Röstigraben, wenn ihre Gefängnisse überquellen. (aargauerzeitung.ch/lyn)
Wo drückt also der Schuh?
- Der übergrosse Anteil an Ausländern im Knast, verglichen zur absoluten Anzahl im Land.
- Das Suizidrisiko ist eigentlich ein Menschenrecht auf den freiwilligen Exit.
Aber schweigen wir weiter, wir wollen ja nicht die Realität anerkennen.