Die Klimajugend der Schweiz setzt auf eine neue Form der Proteste: Schulbesetzungen. Heute findet der Auftakt in Basel statt – im ehrwürdigen Gymnasium am Münsterplatz. watson hat das Organisationskomitee während der letzten Vorbereitungen besucht.
03.02.2023, 06:0105.02.2023, 09:40

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Der Klimawandel wütet vor den Schulzimmerfenstern, doch im Unterricht wird das drängendste Thema der heutigen Zeit kaum behandelt, bemängelt die Klimajugend. Sie will dem Schweizer Schulsystem an den Kragen – und setzt auf eine neue Form des Protests: Schulbesetzungen.
Zur Besetzung haben die Aktivistinnen und Aktivisten Gymnasien und Universitäten der Schweiz im Visier. Der Auftakt soll am Freitag in Basel erfolgen, am Dienstag soll eine Zürcher Schule an der Reihe sein. Organisiert werden die Besetzungen vom Kollektiv «Erde brennt» – ein Schweizer Ableger der internationalen Bewegung End Fossil, die unter anderem an der Besetzungen in Lützerath beteiligt war, sowie von End Fossil Basel.
Böse Zungen würden behaupten, der Klimajugend sei der Kleber ausgegangen, doch Schulbesetzungen gehören in zahlreichen Ländern wie Deutschland, Österreich oder Spanien bereits zum Streik-Repertoire von Klimaaktivistinnen- und Aktivisten.
«Was wir heute im Unterricht lernen, ist überhaupt nicht mehr zeitgemäss.»
Klimaaktivist Cyrill
Dennoch ist sich der Klimaaktivist Cyrill (18) unschlüssig, ob es strategisch clever war, das internationale Wording «Schulbesetzung» zu übernehmen. Heute würde er es als ein Alternativprogramm an Schulen bezeichnen. Denn: Die Schulen sollen nicht nur besetzt werden, geplant sind verschiedene Workshops, welche die Schülerinnen und Schüler zu Themen wie Klimawandel, Rassismus oder Geschlechtsidentität sensibilisieren.

Die Klimaaktivisten Cyrill und Emilie* .Bild: watson
Zürcher Politik mischt mit
Abgehalten werden die Workshops in Zürich unter anderem von Zürcher Jung-Politikern wie Flavien Gousset, Nicola Siegrist und Dominik Waser. Auch geplant ist ein offenes Plenum vom Kollektiv Kritische Lehrpersonen, die sich als Arbeitgebende für ein gerechtes Bildungssystem einsetzen.
Im Vordergrund des Streiks steht vor allem das Schulsystem. «Was wir heute im Unterricht lernen, ist überhaupt nicht mehr zeitgemäss», sagt Cyrill. Er wünscht sich mehr Gegenwartslektionen: «Statt sich jede Epoche der Geschichte bis ins kleinste Detail anzuschauen, wäre es sinnvoller, Lektionen einzuführen, die sich mit Themen der Gegenwart befassen, wie etwa die Energiekrise.»
Zu faktenbasierter Schulstoff
Ganz ignoriert werden Klimathemen zwar nicht: «An meinem Gymnasium lernen wir im Physikunterricht etwas über Atomkraftwerke und in Geografie wird das Thema fossile Energie behandelt. Doch nirgendwo lernen wir, was für Folgen und welche eine Bedeutung der Klimawandel für uns Schülerinnen und Schüler hat. Natürlich unterscheidet sich das von Schule zu Schule. Wir fordern deshalb einheitliche und schweizweite Klimakursmodulle.»

Transpi-Malen in Zürich.bild: watson

Das Endresultat.bild: watson
Die Einführung eines Klimakursmoduls ist geknüpft an eine weitere Forderung: «Da die Realität für viele sehr belastend sein kann, sollten die Schülerinnen und Schüler während oder nach diesen Lektionen psychologisch unterstützt werden.»
«Wir gehen nicht auf die Strasse, sondern dahin, wo wir sowieso den ganzen Tag sein müssen.»
Klimaaktivist Cyrill
Ohnehin bräuchte es mehr psychologische Hilfe an den Schulen, die sich nicht nur auf schulische Probleme wie Prüfungsangst konzentrieren. «Wir Jugendliche haben eines gemeinsam: Wir sind von einem enormen Leistungsdruck betroffen – in Zeiten multipler globaler Krisen. Das schlägt auf die mentale Gesundheit.» Um dem entgegenzuwirken, fordert das Kollektiv weniger Präsenzunterricht. Die Schülerinnen und Schüler können sich vieles auch selbst beibringen.
Cyrill hat damit schon Erfahrungen gesammelt: «Ich habe kürzlich drei Wochen in der Schule gefehlt, weil ich an eine Biodiversitätskonferenz gereist bin. Die Prüfungen habe ich trotzdem geschrieben, den Schulstoff habe ich mir hauptsächlich über Youtube-Videos beigebracht.»
«Ich kann mich nicht daran zurückerinnern, wann ich etwas gelernt habe, das ich nicht selbst hätte googeln können.»
Cyrill
Auch punkto Chancengleichheit wünscht sich die Klimajugend einen Wandel: «Allen Menschen muss der Zugang zu Bildung gleichermassen ermöglicht werden. Viele können sich beispielsweise keinen Vorkurs für eine Gymiprüfung leisten.» Kinder reicher oder akademischer Eltern hätten dadurch einen grossen Vorteil.

So friedlich wie der «hässige» Frosch auf dem Banner sollen auch die Schulbesetzungen werden.bild: watson

Die ersten Vorbereitungen begannen im Juni letzten Jahres.bild: watson
Kein Angriff an die Lehrpersonen
Der Klimajugend gehe es nicht darum, die Lehrpersonen anzugreifen, die seien «genauso in dem System gefangen». Cyrill unterhalte sich oft mit seinen Lehrerinnen und Lehrer über Sinn und Unsinn im Unterricht. Diese würden seine Anliegen zwar verstehen, ihnen seien aber die Hände gebunden. Sie müssen sich an den Lehrplan halten. Die Forderungen sind demnach an die Bildungsdirektion und an die Regierung gerichtet.
«Unsere Forderungen sind nicht direkt an die Schulen gerichtet, sondern an die Bildungsdirektion und an die Politik.»
Cyrill

Emilie hängt ein Plakat mit der Aufschrift «Erde brennt» an die Wand.bild: watson
Friedlichkeit wird grossgeschrieben. Gleich zu Beginn wolle man mit der Schulleitung einen Kompromiss finden, damit den Schülerinnen und Schülern keine innerschulischen Konsequenzen drohen. Wie viele an den Schulbesetzungen teilnehmen werden, sei schwierig abzuschätzen.
Zum Organisationskomitee gehören rund 40 Personen. Der Gruppe angeschlossen hätten sich über 200 Personen. Man rechnet aber mit deutlich mehr. Denn: Die Hemmschwelle, sich dem Protest in seiner eigenen Schule anzuschliessen, sei geringer, als wenn man die Schule für einen Klimastreik schwänzen müsse.

Eine Frage, die sich wohl jede Generation in seiner Schulzeit stellte.bild: watson
«Vermutlich werden es im Verlaufe des Tages immer mehr», vermutet die Schülerin Emilie. Welche Schulen besetzt werden, werde erst am Morgen des entsprechenden Tages kommuniziert. Eines könne sie aber schon verraten: Berufsschulen werden keine besetzt.
Und Emilie plaudert noch mehr aus dem Nähkästen: Die Bewegung werde Teil von etwas Grösserem. Wenn die Forderungen nicht umgesetzt werden, wird es auf jeden Fall eine zweite Welle geben.
Hoffnungsfunken
Die ersten Sitzungen der Klimaaktivistinnen- und Aktivisten zur Planung der Schulbesetzungen begannen im Juni letzten Jahres. Viele Stunden habe man dafür investiert.
Zumindest in einer Stadt hat sich der Aufwand bereits ausbezahlt – in Barcelona. Ab dem Studienjahr 2024 müssen alle Studentinnen und Studenten an der Universität in Barcelona einen obligatorischen Kurs über die Klimakrise belegen. Zudem wird ein Schulprogramm für Klimafragen entwickelt.

Die Besetzung der Universität in Barcelona, Spanien, im November 2022.bild: twitter/endfossil Auslöser war die siebentägige Besetzung von Klimaaktivistinnen- und Aktivisten von End Fossil. Der Kurs gilt als Weltneuheit, schrieb die spanische Zeitung «El Guardian» im November 2022.
Kleber bleibt zu Hause
Klebe-Aktionen wird es keine geben. Cyrill ist von ziviler Ungehorsamkeit gegen die Allgemeinbevölkerung zwiegespalten: «Nach drei Jahren aktivem Klimastreik kann ich gut nachvollziehen, dass man keine Alternative mehr sieht und sich für einen derart radikalen Protest entscheidet.» Dennoch sei er nicht davon überzeugt, dass solche Aktionen etwas bringen. Er nennt folgendes Beispiel:
«Menschen kleben sich auf den Boden, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen – diskutiert wird dann aber darüber, welche Kleber sie dafür verwendet haben.»
*Name der Redaktion bekannt.