Die Klimaseniorinnen fordern, dass Klimaschutz als Menschenrecht anerkannt wird. Als ältere Frauen, so ihre Argumentation, leiden sie besonders unter den Folgen der Klimaerwärmung, namentlich unter den häufigeren und intensiveren Hitzewellen. Es gilt als erwiesen, dass ältere Frauen im Verglichen mit der Gesamtbevölkerung ein erhöhtes Gesundheits- und Sterberisiko haben.
Die Klimaseniorinnen Schweiz sind ein 2016 gegründeter Betroffenen-Verein. Gemäss eigenen Angaben vertritt er mittlerweile über 2500 Frauen im Pensionsalter. Das Durchschnittsalter liegt bei 73 Jahren.
Seit seiner Gründung versucht der Verein, den Bund einzuklagen, weil er zu wenig für den Klimaschutz tue – und damit Menschenrechte missachte. Mit ihrer Klage wollen die Klimaseniorinnen erreichen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz dazu verpflichtet, den Klimaschutz so zu stärken, dass ihr Leben und ihre Gesundheit geschützt werden.
Die Schweizer Klimapolitik sei unzureichend, argumentieren sie, um die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Niveau auf 1,5 Grad zu begrenzen, wie es das Pariser Klimaabkommen vorsieht. Die Klimaseniorinnen haben dem Gerichtshof beantragt, der Schweiz Massnahmen anzuordnen, wie sie die mutmassliche Menschenrechtsverletzung beheben soll.
In der Schweiz wurde die Klage der Klimaseniorinnen gegen den Bund in sämtlichen Instanzen abgelehnt, beziehungsweise es wurde gar nicht darauf eingegangen. Nach dem negativen Entscheid des Bundesgerichts zogen die Klimaseniorinnen ihre Klage 2020 weiter an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Dort fand im Frühling 2023 die Anhörung statt.
Die Klage der Klimaseniorinnen ist die erste Klimaklage, die der EGMR verhandelt. Er tut das in der Grossen Kammer mit ihren siebzehn internationalen Richterinnen und Richtern. Das zeigt, welches Gewicht der EGMR dem Fall beimisst. Ansonsten hätte er die Klimaseniorinnen lediglich in einer der siebenköpfigen Kammern angehört. Nebst der Anhörung der Klimaseniorinnen hörte der Gerichtshof zwei weitere Klimaklagen an. Eine aus Frankreich und eine aus Portugal.
Nun, am 9. April 2024, werden in allen drei Fällen die Urteile verkündet. Mindestens sieben weitere Klimaklagen, von denen sich einige auch gegen die Schweiz richten, hat der EGMR vertagt, bis die Grosse Kammer über die drei aktuellen Fälle geurteilt hat.
An den EGMR können Menschen gelangen, die von den obersten Gerichten ihrer Herkunftsländer – dazu gehören die 46 Mitgliedsstaaten des Europarats – abgewiesen wurden und die der Ansicht sind, dass ihre Menschenrechte verletzt sind. Der EGMR ist die letzte Instanz in Menschenrechtsfragen. Er stützt sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention. EGMR-Urteile sind für die Mitgliedstaaten verbindlich, allerdings kann der Gerichtshof keine Sanktionen verhängen.
Der EGMR prüft nun, in welchen Punkten er den Klimaseniorinnen Recht gibt. Eine Klage am EGMR ist nur zulässig, wenn der sogenannte Opferstatus erfüllt ist. Dass bei den Klimaseniorinnen nur Frauen ab 64 mitmachen dürfen, hat also prozesstaktische Gründe. Denn die Klägerinnen müssen nachweislich übermässig von der mutmasslichen Menschenrechtsverletzung betroffen sein. Noch ist unklar, ob der EGMR der Ansicht ist, dass eine juristische Person wie ein Verein individuelle Betroffenheit vorweisen kann. Um dem vorzubeugen, klagt der Verein gemeinsam mit vier Einzelklägerinnen, die individuelle Betroffenheit geltend machen.
Öfter wird der Vorwurf laut, die Klimaseniorinnen seien Marionetten von Greenpeace. Dies weisen die Vereinsmitglieder immer wieder von sich und betonen, dass sie mit Greenpeace zusammenarbeiten und nicht instrumentalisiert würden.
Greenpeace hat den Verein Klimaseniorinnen Schweiz initiiert. Vorbild war eine erfolgreiche Bürgerinnenaktion in den Niederlanden, der ein historisches Urteil gelungen ist. Die Niederlande wurden zuerst vom Zivilgericht und später vom obersten Gericht verpflichtet, den Treibhausgasausstoss neu um 25 statt 17 Prozent zu senken.
Greenpeace Schweiz positioniert sich seit der Gründung der Klimaseniorinnen als deren Partner. Als solcher übernimmt Greenpeace Verfahrenskosten, zum Beispiel für das Anwaltsteam. Zudem koordiniert die NGO etwa die Medienarbeit.
Seit 2016 wurden für die Klimaseniorinnen durchschnittlich 120'000 Franken pro Jahr aufgewendet, gibt Greenpeace an. Einen «substanziellen Teil» davon trügen die Vereinsmitglieder selbst.
Egal, ob das Urteil gutgeheissen oder abgelehnt wird: Am 9. April sind alle Augen auf den EGMR gerichtet. Denn das Urteil wird als Leiturteil in die Geschichte eingehen. Die 46 Mitgliedstaaten des Europarats werden sich künftig danach richten.
Was passiert, wenn die Klage gutgeheissen würde, hänge von der Urteilsbegründung ab, sagt Helen Keller, Völkerrechtsprofessorin an der Universität Zürich und ehemalige Richterin am EGMR. Sie beobachtet den Fall der Klimaseniorinnen seit längerem. «Der EGMR wird den Klägerinnen wohl nicht in allen Punkten Recht geben, aber in Teilbereichen könnten sie durchaus erfolgreich sein.»
Gute Chancen sieht Keller beim Zugang zum Gericht, der den Klimaseniorinnen verwehrt wurde, weil die Schweizer Gerichte gar nicht erst auf die Klage eingetreten sind. Auch das ist ein Menschenrecht. Der Zugang zum Gericht könnte in den Mitgliedstaaten gestärkt werden, sagt Keller, sodass Klimaklagen stets seriös geprüft werden müssten.
Würden die Klägerinnen Recht bekommen, müsste die Schweiz die Menschenrechtsverletzungen beheben. Das heisst, sie müsste Gesetze erlassen oder ändern.
Es könnte sein, dass der EGMR die Beschwerde mit der Begründung ablehnt, dass die Klimaseniorinnen nicht mehr als der Rest der Bevölkerung von der Klimaerwärmung betroffen sind, sagt Helen Keller. Aber: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass der EGMR die Beschwerde auf der ganzen Linie ablehnt.» Sonst, sagt sie, hätte er den Aufwand mit der Grossen Kammer nicht betrieben, sondern die Klage von Anfang an abgeschmettert. (aargauerzeitung.ch)
Und das mag ich nicht.