«Ein Land ist nicht nur das, was es tut - es ist auch das, was es verträgt, was es duldet.» Dieser Satz des deutschen Schriftstellers Kurt Tucholsky ist aufschlussreich, wenn es um die Meinungsfreiheit geht. Ein freies Land wie die Schweiz sollte vieles vertragen, aber nicht alles dulden.
Nehmen wir den Fall des österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner. Die Aargauer Kantonspolizei schritt bei dessen Auftritt in Tegerfelden ein, weil sie die Aktivität als potenziell gefährlich einstufte. Daraufhin solidarisierte sich die Junge SVP Aargau mit dem Neonazi und Antisemiten Sellner und sprach von einem «schwarzen Tag für unsere Demokratie und Meinungsfreiheit». Und sogar der US-Multimilliardär Elon Musk, der sich auf seiner Plattform X gern als Hüter der freien Meinungsäusserung geriert, wunderte sich über den Polizeieinsatz gegen Sellner.
Eigentlich müsste die liberale Schweiz den Auftritt von rechten wie linken Extremisten aushalten, solange die Aktivitäten keine konkrete Gefahr für die Sicherheit des Landes darstellen. Doch genau das lässt sich bei Sellner, dem führenden Kopf der «Identitären», eben nicht ausschliessen. Immerhin pflegte er Kontakt zum Rechtsterroristen Brenton Tarrant, bevor dieser 2019 bei einem Anschlag auf Moscheen in Christchurch (Neuseeland) 51 Menschen umbrachte.
Die USA und Deutschland erliessen gegen Sellner, der auf der Kippe zum Rechtsterrorismus steht, ein Einreiseverbot. Auch deshalb besteht die Gefahr, dass er und andere «Identitäre» vermehrt in die Schweiz ausweichen, um ihre kruden Ideologien in Umlauf zu bringen und möglicherweise Gewalttaten vorzubereiten. Sellner fordert in einem «Masterplan zur Remigration» die Abschiebung von Millionen von Menschen mit Migrationshintergrund.
Auch auf eher woke-linker Seite sieht man die Meinungsfreiheit bedroht. 505 Lehrpersonen von Schweizer Unis unterzeichneten kürzlich einen offenen Brief für Wissenschaftsfreiheit. Sie beklagen ein feindseliges Klima gegenüber kritischer Forschung wie Genderstudien, Postkoloniale Studien oder Critical Race Studies.
Doch die Unterzeichner leisten damit der Glaubwürdigkeit unserer Unis einen Bärendienst. Denn sie nehmen explizit Lehrkräfte in Schutz, die in ihren Instituten nicht forschten, sondern grob fahrlässige Meinungen zum Hamas-Terror absonderten. Am 7. Oktober bezeichnete ein inzwischen entlassener Berner Dozent für Nahost-Studien die grausame Hamas-Attacke als «bestes Geschenk». Und ein Basler Dozent gab Israel die Schuld an der ganzen Gewalteskalation.
Forschende, die sich um die kritische Wissenschaft sorgen, hätten besser daran getan, in ihrem offenen Brief zu betonen, dass an Schweizer Hochschulen keine blinden Ideologen geduldet werden, die mit ihren abstrusen Verlautbarungen die Geistes- und Sozialwissenschaften und letztlich den Forschungsstandort Schweiz in Verruf bringen.
Der urliberale Dialog mit unliebsamen Andersdenkenden jeder Fasson ist zwar hochzuhalten, weil wir nur durch Meinungsstreit weiterkommen. Und es ist klar, dass es weiterhin die verdammte Pflicht von Intellektuellen, Journalistinnen, Künstlern und Wissenschaftlerinnen ist, den Leuten auch kritische Wahrheiten zu sagen, die man eigentlich nicht hören will.
Aber Meinungsfreiheit beruht nicht auf totaler Toleranz, die selbst jene gleichwertig einschliesst, die in ihrem vermeintlich überlegenen Weltbild keine Toleranz kennen. Meinungsfreiheit beruht auch auf Intoleranz gegenüber gewaltbereiten religiösen oder politischen Fanatikern und Feinden jeder offenen und freiheitlichen Gesellschaft.
Gerade in unserer digitalen Moderne mit Deepfake, Desinformationskampagnen und Trollen ist es wichtig zu sagen, dass die Meinungsfreiheit ihre Grenzen hat und ein Verbot oder eine Einreisesperre als letztes Mittel nicht gleich das Ende der liberalen Demokratie bedeutet.
(aargauerzeitung.ch)