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Der Zivildienst soll schon wieder unattraktiver werden: Ein Kommentar

Der Zivi ist wütend.
Der Zivi ist wütend. bild: keystone/christian beutler/watson
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An alle Zivildienst–Gegner: Ich hab da was für euch☝

Nun hat nach dem Ständerat also auch der Nationalrat dafür gestimmt, den Zivildienst unattraktiver zu machen. Ich bin nicht hässig, ich bin enttäuscht. Denn ich habe während meiner Einsätze eins gemerkt: Es braucht mehr von uns.
19.12.2019, 12:1320.12.2019, 06:01
Dario Cantieni
Dario Cantieni
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Zu Beginn müssen wir schnell die Begriffe klären. Zivildienst ist nicht gleich Zivilschutz. Die Zivilschützer kennt man mit den grün-orangen Tenues. Sie sind im Katastrophenfall für «Schutz, Betreuung und Unterstützung der Bevölkerung» zuständig. Zum Zivilschutz wird man eingeteilt, falls man weder militär- noch zivildienst-, jedoch schutzdiensttauglich ist. Also etwas salopp gesagt: Der Zivilschutz ist etwas zwischen tauglich und untauglich.

Während der Zivildienst ein Ersatzdienst ist, bei dem man voll militärdiensttauglich sein muss, sich danach aber mittels eines Gesuches umteilen lassen kann.

Der ganze Zivildienst soll nun aber (erneut) unattraktiver gemacht werden. Die Story dazu hier:

Dass es bei Weitem nicht das erste Mal ist, dass man die Zivis mit strengeren Auflagen «abschrecken» will, gibt mir zu denken. Denn anscheinend hat keine/r der Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die für eine Verschärfung des Zugangs zum Zivildienst gestimmt haben, je einen Zivi in Aktion erlebt. Anders lässt sich mir das zivifeindliche Drücken des Abstimmungsknopfes nicht erklären.

Ich leiste in diesen Tagen meinen letzten Zivildiensteinsatz als Klassenassistenz an einer Innerschweizer Schule. In den letzten knapp zehn Jahren war ich an verschiedensten Orten tätig:

  • … in Altersheimen in Bellinzona und Basel
  • … in einem Kurzentrum mit Wohngruppe im Toggenburg
  • … in einer Bücherei in Lausanne
  • … in einer Jugendherberge in Churwalden

In dieser Zeit habe ich nicht nur die verschiedenen Regionen der Schweiz, sondern auch viele Menschen kennengelernt. Es sind Menschen, die dankbar waren, dass ich da war.

  • Die alte Frau mit Demenz, die den ganzen Tag nur geschrien hat, weil niemand der Pflegerinnen und Pfleger Zeit hatte, sich um sie zu kümmern (da sie laut eigenen Aussagen vor lauter Auflagen fast nur noch Medikamente verteilen und alles rapportieren müssen). Ich konnte mir Zeit für sie nehmen und mit ihr spazieren gehen, wobei sie sich etwas beruhigte. Weil sie nicht nur den ganzen Tag mit dem Rollstuhl am gleichen Ort stehen musste.
  • Oder die Frau im Altersheim, die weinte, weil sie fast niemand mehr besuchte. Ich konnte ihre Hand halten und ihr immerhin ansatzweise das Gefühl geben, sie sei nicht alleine
  • Oder die Ausflüge mit den Bewohnern der Wohngruppe. Durch die Zivis kommen sie in Kontakt mit anderen, jungen Menschen, es können Freundschaften entstehen
  • Oder die Kinder von fremdsprachigen Eltern, mit denen ich in der Schule in der 1:1 Betreuung Verben konjugieren, Wörter lernen und Texte lesen kann
  • Oder oder oder...

Die Liste hier könnte noch lange weitergehen, da die Bereiche, in denen ein Zivi auch ohne grosses Fachwissen wirklich etwas bewirken kann, vielfältig sind. Nicht nur im sozialen Bereich.

Natürlich gab es auch Aufgaben, die eher auf der sinnbefreiten Seite anzusiedeln waren. Als ich in der erotischen Bücherei in Lausanne das Frosch-Kamasutra und andere, mehr oder weniger ansprechende, Literatur archivieren musste (ja, auch das gibt's als Zivi). Aber immerhin habe ich da nicht stundenlang meinen Mutz gesucht oder mein Zimmer mit Spätpubertierenden in Tarnanzügen mit Pornoheftli unter der Matratze geteilt.

Klar, ich werfe jetzt auch mit Klischées und gefährlichem Halbwissen über das Militär um mich. Aber genau das wird tagtäglich mit dem Zivildienst gemacht.

Leider nicht nur auf den Strassen der Schweiz, sondern offensichtlich auch im Parlament.

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103 Kommentare
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Atombömbeli
19.12.2019 12:31registriert Juni 2015
Sehr schöner Kommentar.

Trotz allem weiss ich nicht, ob ich nochamls den militärischen oder den zivildienstlichen Weg einschlagen würde. Dank dem Militär habe ich sehr viel über Politik gelernt, wie bürgerliche Milliarden "sinnlos" verpulvern können. Ich habe sehr viel über Teamführung gelernt (und habe perfekte Beispiele getroffen für Menschen, welche NIE andere Menschen führen sollten und Menschen, welche selbst das sinnlose Warten im Herd/Matsch bei -10 Grad ertragbar machen konnten). Vielleicht hätte ich dies auch im Zivildienst gelernt, dank dem Militärdienst wähle ich immer links :-)
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Inegleit
19.12.2019 14:05registriert Dezember 2019
Nach der RS, welche mir primär gezeigt hat, wie menschlicher Umgang nicht funktionieren sollte, durfte ich im Zivildienst uA. ein halbes Jahr in einer Notschlafstelle für Obdachlose in der Romandie arbeiten. Ich kann nur zustimmen, dass die Leute, immer froh waren um meine Anwesenheit und ich habe viel gelernt bei der Arbeit. Der Zivildienst hat unter anderem meine Berufswahl beeinflusst und ich kenne noch andere, welchen es gleich ergangen ist.
Ich glaube, wer gegen Zivildienst ist, hat vermutlich selbst noch keine Erfahrungen damit gemacht, oder möchte sich profilieren.
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Hosesack
19.12.2019 16:16registriert August 2018
Ich habe meinen Dienst in der Armee geleistet. Wobei geleistet das falsche Wort ist, abhocken/durchstehen trifft die Sache eher. Und ja, ich war Infantrist.
Das Problem ist nicht, dass der Zivildienst zu attraktiv ist. Das Problem ist, dass das Militär zu scheisse ist.
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