Wie viel Geld bleibt Ende Monat übrig, wenn alle Rechnungen bezahlt sind? Angesichts der deutlich spürbaren Inflation dürfte die Antwort bei vielen Konsumentinnen und Konsumenten klar ausfallen: Das verfügbare Einkommen schmilzt dahin – und zwar gefühlt viel stärker, als dies in den amtlichen Statistiken aufscheint.
Gemäss des Landesindex der Konsumentenpreise des Bundesamts für Statistik betrug die Teuerung im vergangenen Jahr «nur» 2.8 Prozent. Im Vergleich zu den Nachbarländern ist das moderat. Und seit Anfang Jahr ist die Rate stetig auf 1.7 Prozent zurückgegangen.
Doch warum bleibt gefühlt im Portemonnaie trotz der moderaten Teuerung weniger übrig? Diese Frage hat sich kürzlich der Ökonom Fabio Canetg gestellt. Für ihn bildet die Inflationsrate den tatsächlichen Kaufkraftverlust nur ungenügend ab, weshalb er ein neues Mass vorschlägt: eines, das die Krankenkassenprämien miteinbezieht. Diese sind in der offiziellen Inflationsrate nicht einberechnet. Denn sie misst nur, ob unsere Einkäufe teurer werden – nicht aber, ob wir beispielsweise häufiger zum Arzt müssen, weil wir älter werden.
Das heisst: Wenn alle Preise konstant bleiben, die Krankenkassenprämien wegen steigender Arztbesuche aber steigen, zeigt die Inflationsrate keinen Kaufkraftverlust an. Das darum, weil der Arztbesuch an sich nicht teurer geworden ist. So entsteht der Eindruck, man könne sich mit seinem Lohn noch gleich viel kaufen wie vorher – obwohl ein Haushalt tatsächlich mehr Geld für die Prämien ausgeben muss. «Das entspricht nicht dem, was man allgemein als Kaufkraft versteht», findet Fabio Canetg.
In seinem Modell würden die Einbussen besser greifbar, weil die steigenden Krankenkassenprämien miteinfliessen. Trotz Lohnerhöhungen hat ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt seit 2001 demnach einen realen Kaufkraftverlust von 6.1 Prozent erlitten. In diesem Zeitraum haben sich die Krankenkassenprämien mehr als verdoppelt. Für nächstes Jahr hat der Bund eine Prämiensteigerung von durchschnittlich 8.7 Prozent angekündigt.
Canetg sieht seinen Vorschlag als Anregung für die Debatte über die Kaufkraft. Er stellt die klassische Inflationsrate nicht infrage, diese habe als statistische Grösse durchaus ihre Berechtigung. Er gibt aber zu bedenken: «Wenn wir über Kaufkraft reden, bildet sie wichtige Komponenten wie die Krankenkassenprämien nicht ab. Es stört mich deshalb, wenn argumentiert wird, man habe in der Schweiz mit einer Teuerung von 1.7 Prozent nur einen geringen Kaufkraftverlust.»
Seine Berechnungen hat der Dozent an den Universitäten Neuchâtel und Bern im September der Bundeshausfraktion der SP präsentiert. Geladen waren auch andere Geldpolitik-Experten. Canetg betont, er halte Referate für alle politischen Parteien.
Wenig überraschend haben die Sozialdemokraten den «Gedankenanstoss» wohlwollend aufgenommen - haben Sie doch ihren Wahlkampf unter das Motto «Kaufkraft schützen» gestellt. Inwiefern die SP bei den Wahlen am 22. Oktober vom Kaufkraftverlust der Wählenden profitieren kann, ist offen. Klar ist, dass die wachsenden Gesundheitskosten und Prämien, die immer mehr vom Haushaltsbudget wegfressen, gemäss Umfragen zu den drängendsten Problemen der Menschen gehören. Stark auf dieses Thema gesetzt hat auch die Mitte-Partei. Sie will die «Kaufkraft von Familien und Mittelstand wiederherstellen» und hat für den Gesundheitsbereich eine Kostenbremse-Initiative lanciert.
Lange kannte die Schweizer Wirtschaft einen automatischen Teuerungsausgleich. Bis in die 1990er-Jahre waren solche Klauseln Teil vieler Gesamtarbeitsverträge. Heute gibt es nur noch wenige Branchen, die davon profitierten. Der Mindestlohn für Angestellte in der Maschinenindustrie wurde beispielsweise auf Anfang dieses Jahres automatisch um drei Prozent angehoben. Der Zuschlag orientierte sich an der amtlichen Inflationsrate.
Anfang des Jahres forderte der Schweizerische Gewerkschaftsbund die Wiedereinführung eines solchen automatischen Teuerungsausgleichs auf breiter Front. Würde man diesem ein Modell unterlegen, das die Krankenkassenprämien berücksichtigt, müsste der Ausgleich höher ausfallen als die bestehende Inflationsrate, was bestimmt im Sinne der Gewerkschaften wäre. Sie kritisieren beispielsweise, dass die Firmen die Gewinne den Aktionären zuschanzten, während die Mitarbeitenden leer ausgingen.
Doch das stimmt nur bedingt. Der Anteil der Wertschöpfung, der an die Arbeitnehmenden verteilt wird, liegt seit Jahren zwischen 54 und 60 Prozent. Und in den letzten zehn Jahren ist diese Lohnquote gar wieder etwas angestiegen.
Auf der technischen Ebene gibt es ebenso Argumente, die etablierte Inflationsrate nicht anzutasten. Alexandra Janssen erklärte im Podcast mit Fabio Canetg, warum sie eine Anpassung nicht sinnvoll findet: «Das ist vielleicht ein spannendes Mass, hat aber nichts mehr mit dem Landesindex der Konsumentenpreise zu tun. Es werden Menge und Preis vermischt, das macht eine Interpretation schwierig.» Der bestehende Index sei zudem massgebend für die geldpolitischen Entscheide. (aargauerzeitung.ch)
Die Wertschöpfung wird aber nicht gleichmäßig auf die Arbeitnehmer verteilt. Den Löwenanteil schnappt sich die Teppichetage. Viele Mitarbeiter gingen tatsächlich über Jahre leer aus.
Weniger Geld im Portemonnaie... 🙄