Ein Kollege brachte es kürzlich auf den Punkt: «Wir haben ein teures, aber auch ein sehr gutes Gesundheitswesen.» Es ging um einen Notfall im familiären Umfeld. Ein kleines Mädchen war vom Sofa gefallen und hatte sich eine Schädelfraktur zugezogen. Dank einer aufwendigen und erfolgreichen Operation dürfte es vollständig genesen.
Die Qualität des Gesundheitswesens in der Schweiz ist tatsächlich hoch. Wir sind weit entfernt von Zuständen wie in Grossbritannien, wo der populäre National Health Service (NHS) akute Zerfallserscheinungen aufweist. Man wartet monatelang auf einen Arzttermin, und teilweise ist es Glückssache, ob die Ambulanz im Notfall rechtzeitig eintrifft.
Die Kehrseite ist der Preis. Unser Gesundheitswesen ist teuer. Und das System der (Teil-)Finanzierung durch Kopfprämien gerät ans Limit. Am Dienstag musste der scheidende Gesundheitsminister Alain Berset die unangenehme Botschaft verkünden, dass die Krankenkassenprämien 2024 im Schnitt um 8,7 Prozent ansteigen werden.
Es ist die grösste Zunahme seit Jahren. Damit werden die Prämien für den unteren und den «mittleren» Mittelstand, die keinen oder nur einen geringen Anspruch auf Verbilligungen haben, zu einer immer stärkeren Belastung. Zumal auch sonst vieles teurer wird, etwa die Mieten und die Strompreise. Speziell für Familien wird es zunehmend eng.
Die individuellen Möglichkeiten zur Senkung der Prämienlast sind begrenzt. Bei den gängigen Tipps – Wechsel der Krankenkasse, höhere Franchise – ist die «Zitrone» häufig bereits ausgepresst. Ausserdem werden Kassen und Versicherungsmodelle mit tiefen Prämien oft «überrannt» und müssen im folgenden Jahr besonders stark aufschlagen.
So beisst sich die Katze in den eigenen Schwanz. Die Ursachen für den Prämienanstieg sind vielfältig. Es liegt nicht nur an der alternden Bevölkerung und am medizinischen Fortschritt. Das Problem sind Fehlanreize, halbbatzige Reformen und der fehlende Mut der Politik, sich mit mächtigen Akteuren wie Big Pharma anzulegen.
Die Reaktionen auf den «Prämienschock» fallen entsprechend aus. Linksgrün setzt auf teure Symptombekämpfung mit mehr Verbilligungen und einkommensabhängigen Prämien. Die FDP propagiert eine «Budget-Krankenkasse» und die Mitte ihre Kostenbremse, an deren Wirkung sie selber zweifelt. Und für die SVP sind Berset und die Ausländer an allem schuld.
Die Direktorin des Spitalverbands H+ äusserte im «Sonntagsblick» Sympathien für eine Einheitskasse. Die «Retourkutsche» lieferte Martin Landolt, Mitte-Nationalrat und Präsident des Krankenkassenverbands Santésuisse. Er forderte in einem Tamedia-Interview eine zentrale Spitalplanung durch den Bund und damit eine faktische Entmachtung der Kantone.
Diese spielen tatsächlich eine zwiespältige Rolle. Aus Angst vor dem Zorn der Wählerschaft schrecken sie vor einer Optimierung ihrer Spitallandschaft zurück, die zu mehr Effizienz und weniger Doppelspurigkeiten führen würde. Gerade erst ist ein Projekt in der Ostschweiz gescheitert. Gleichzeitig aber knausern die Kantone gerne bei den Prämienverbilligungen.
Ein Schwarzpeterspiel zwischen den Akteuren und eine Politik, die harte Entscheide scheut und rasch einknickt, wenn die finanzstarken Lobbys Widerstand ankündigen – es erstaunt nicht, dass der Druck in letzter Konsequenz den Prämienzahlenden aufgebürdet wird. In diesem Umfeld gedeihen fragwürdige und grenzwertige Wortmeldungen.
So meinte ein NZZ-Kommentator im Frühjahr allen Ernstes, die Krankenkassenprämien dürften «auch weh tun». Um sogleich einzuräumen, dass davon am ehesten der untere Mittelstand betroffen sei. Um es klar zu betonen: Die Krankenkassenprämien sind eine Versicherung bei Krankheit und Unfall – und kein Folterinstrument!
Oder salopp formuliert: Sie sollen Schmerzen lindern, nicht verursachen.
Ähnlich absurd und vor allem hilflos ist eine weitere NZZ-Forderung. Ein Delegierter des Bundes, eine Art «Gesundheits-General», soll die medizinische Überversorgung bekämpfen. Und die St.Galler SP-Nationalrätin Barbara Gysi regte letzte Woche die Schaffung einer Art Finma für das Gesundheitswesen an, der man unnötige Eingriffe melden könne.
An sich keine schlechte Idee, nur muss man befürchten, dass sie ähnlich «zahnlos» sein wird wie die heutige Banken-Finma. Hoffnungen verbinden sich auch mit dem neuen Parlament und der Nachfolgerin oder dem Nachfolger von Alain Berset. Einige Projekte sind in der Pipeline, von denen man sich eine gewisse Entlastung verspricht.
Dazu gehört die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Spitalleistungen, der neue Ärztetarif Tardoc oder der Neustart beim elektronischen Patientendossier. Es soll Doppelspurigkeiten und Überbehandlungen vermeiden. Ärzte und Spitäler wollen heute oft nichts davon wissen, denn sie profitieren von Doppelspurigkeiten und Überbehandlungen.
Interessant ist auch ein Projekt, das der Walliser Spitalunternehmer Antoine Hubert nächstes Jahr in den Kantonen Bern, Jura und Neuenburg zusammen mit der Krankenkasse Visana lanciert. Es handelt sich um eine Art «All inclusive»-Modell, das Krankenkasse, öffentliche Hand sowie Leistungserbringer wie Ärzte und Spitäler unter einem Dach vereint.
Vorbild ist die Gesundheitsorganisation Kaiser Permanente im US-Bundesstaat Kalifornien. Hubert erhofft sich tiefere Kosten und Prämien, wie er der «NZZ am Sonntag» sagte. Und zwar ohne dass die Qualität leidet. Andernfalls würden die Mitglieder des Projekts die Krankenkasse wechseln: «Wir stehen also unter erheblichem Druck, sehr gut zu sein.»
Ob dieses integrierte Modell die Erwartungen erfüllt? Skepsis ist angebracht, aber eine Chance hat es sicher verdient. Denn ewig kann es mit dem Prämienwachstum nicht weitergehen wie bisher. Mehr Verbilligungen, wie sie die SP fordert, sind teuer und keine nachhaltige Lösung. Und die Prämien als Druckmittel zu missbrauchen, ist unethisch.
Wir haben in der Schweiz ein sehr gutes Gesundheitswesen. Aber nur weil es immer teurer wird, wird es nicht zwangsläufig immer besser. Mit gezielten «chirurgischen» Eingriffen bekommt man die Kosten in den Griff, ohne dass wir auf «britische Verhältnisse» zusteuern.
Wer da auf die Politik wartet, bis etwas passiert... nun... wird noch sehr lange warten.