Ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung singt – ob privat unter der Dusche oder gesellig im Chor. 662 Jodlergruppen und rund 1400 weltliche Chöre gibt es hierzulande. Die beiden Landeskirchen vereinigen allein für die Deutschschweiz nochmals rund 800 Kirchenchöre auf sich. Kinder- und Jugendchöre an Schulen und Musikschulen sind da noch nicht einmal mit eingerechnet. Ein mächtiger Klangkörper ist das. Ein Klangkörper, der an Dorffesten, in Altersheimen, an Gottesdiensten und 1.-August-Feiern das gesellschaftliche Leben in der Schweiz prägend mitgestaltet.
Die Pandemie, so viel steht fest, hatte die Chöre lange zum Verstummen gebracht. Singen galt während der Hochphase als Hochrisikodisziplin. Der Bundesrat beschloss phasenweise sogar ein Singverbot für Laienchöre. Geschichten von Massenansteckungen bei Chorproben machten die Runde.
Kathrin Urscheler, Präsidentin des Contrapunkt-Chors aus Muttenz, erinnert sich, wie die Öffentlichkeit auf ihren Chor wegen einer Massenansteckung aufmerksam wurde. Auch die internen Spannungen hat sie nicht vergessen: «Während der Pandemie gab es im Chor einerseits Ängstliche, andererseits Massnahmengegnerinnen und -gegner und dazwischen viele Pragmatische.» Sie habe versucht, den Kontakt zu allen zu halten, und habe für das eine Lager Proben ohne Masken im Freien und für das andere drinnen mit Masken organisiert.
So etwas bleibt nicht folgenlos. Die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt befragte im März 2021 rund 4000 deutsche, Schweizer und österreichische Chöre zu ihrer Situation. Zwei Drittel kämpften mit Mitgliederverlusten. Fast 7 Prozent hatten gar keine Mitglieder mehr. Bei einer Wiederholung der Befragung im letzten Frühjahr standen Chöre immer noch mit einem Viertel weniger Mitglieder da.
Auch die Ergebnisse einer Umfrage zum Kulturkonsum der Schweizer Bevölkerung lassen aufhorchen: Noch im Herbst 2022 gaben 18 Prozent an, ihr Engagement in der Laienkultur nicht wieder aufgenommen zu haben. Vor allem Frauen, über 65-Jährige und Menschen vom Land hätten sich von ihren Ehrenämtern, ihren Laientheatervereinen, Blasmusikkapellen oder Chören verabschiedet.
Die Schweizerische Chorvereinigung, die 1400 weltliche Chöre vertritt, verbucht für den Zeitraum 2019 bis 2022 5 Prozent weniger Ensembles. 9 Prozent aller Sängerinnen und Sänger hätten während der Pandemie ihre Vereine verlassen. Und auch der Schweizerische Kirchengesangsbund, der die reformierten Kirchenchöre unter sich vereinigt, rechnet für 2022 mit einem Mitgliederrückgang von 10 Prozent.
Franz-Xaver Risi, Kulturbeauftragter des Kantons Schwyz, hat die erwähnte Studie zum Kulturkonsum der Schweizer Bevölkerung im Auftrag der Schweizer Kulturbeauftragten begleitet. Für ihn sind die Schwierigkeiten vieler Laienkulturvereine, ihre Mitglieder halten zu können und neue, insbesondere jüngere zu gewinnen, schon länger sichtbar.
Gerade für ländliche Regionen, deren kulturelles Leben nicht von hochsubventionierten Konzerthäusern gestaltet wird, ist das ein Problem. Laienvereine seien zwar meist erfolgreicher, ihr Publikum zurückzugewinnen, so Risi. Aber sie tun sich zunehmend schwerer, die eigenen Produktionen wegen abnehmender Mitgliederzahlen, sinkender Sponsoreneinnahmen und einer gewissen Übersättigung noch zu stemmen. «Wobei erhebliche regionale Unterschiede bestehen», sagt Risi. Eine Studie zur Laienkultur, welche die Kulturbeauftragten von Obwalden und Uri derzeit für die Konferenz der Kulturbeauftragten Schweiz (KBK) erarbeiten, soll das zeigen.
Tatsächlich dürfte es so sein, dass die Pandemie die Chorlandschaft Schweiz je nach Region und Sparte noch stärker in Gewinner und Verlierer aufgeteilt hat. Die Zahl der weltlichen Chöre ist in den Jahren vor der Pandemie laut der Schweizerischen Chorvereinigung sogar wieder leicht gestiegen. Die Zahl der Kinder- und Jugendchöre hat zwischen 2019 und 22 sogar um 2,5 Prozent zugenommen. Auch Jodlervereine konnten dank intensiver Jugendförderung ihre überalterten Vereine mit Nachwuchs auffrischen.
Eine Umfrage unter Laienchören zeigt: Wer als Chorleiterin oder Chorleiter während der Pandemie den Kontakt zur Basis hielt, hat während der Pandemie kaum Mitglieder verloren. Wer sein Programm auf Weltmusik, Popmusik oder Crossover ausrichtet, zieht immer noch neue Sängerinnen und Sänger an. Hingegen hat ein Grossteil der Männerchöre in den letzten Jahren aufgeben müssen. Auch Frauen- und Kirchenchöre haben Mühe, noch aktive Mitglieder zu finden. Und auch Kinder- und Jugendchöre an den Musikschulen müssen trotz guter Mitgliederentwicklung die während der Pandemie verlorenen jungen Jahrgänge wieder aktiv zurückgewinnen.
Im Chorsterben während der Pandemie, das zeigt sich deutlich, spiegelt sich ein gesellschaftlicher Wandel. Vor allem berufstätige Menschen haben keine Lust mehr, ihre Freizeit einem strengen Vereinsleben unterzuordnen – nicht von ungefähr gibt es einen Trend hin zum Projektchor. Auch machen Chöre gerade ähnliche Erfahrungen wie grosse Konzerthäuser: Der Vorverkauf für Konzerte läuft harzig, Spontankäufe sind die Norm.
Für kriselnde Chöre sei die Pandemie «der letzte Nagel im Sarg» gewesen, sagt der Aargauer Bariton und Chorleiter Daniel Pérez. Überalterte Chöre, die schon vor der Pandemie wenig in den Nachwuchs investierten, mussten aufgeben. Die traditionsreichen Männerchöre aus dem 19. Jahrhundert, in denen man früher nicht nur gesungen hat, sondern Männerbünde schmiedete und geschäftete, haben in einer Welt, in der auch Frauen mitreden, an gesellschaftlicher Bedeutung eingebüsst – die wenigen Männer, die in diesen überalterten Chören noch organisiert sind, sei Singen zur Nebensache geworden – das Bier danach ist wichtiger. So aber zieht man keine neuen Mitglieder an.
In einer zunehmend konfessionslosen Gesellschaft, die kaum noch mit geistlicher Musik in Berührung kommt, stürzen auch Kirchenchöre in eine Existenzkrise. Eine Entwicklung, welche die Luzerner Chorleiterin Moana N. Labbate bedauert: «Da geht ein riesiger Kulturschatz verloren», sagt sie. Früher hätten Laienchöre geistliche Werke aufgeführt. Heute werde dieser Part von Profis übernommen.
Die Professionalisierung des Laienchorwesens ist noch in anderer Hinsicht eine Herausforderung. Die Zeiten sind vorbei, als der Amateurmusiker aus dem Nachbardorf die Chorleitung übernahm. Heute leiten die Chöre ausgebildete Profis, die sich nicht alle Chöre leisten können. Gerade kleinere Chöre suchen händeringend nach Menschen, mit denen sie wieder durchstarten können, weil der alte Chorleiter sich während der Pandemie zurückgezogen hat.
Die jungen, motivierten Profis wiederum treffen auf Vorstände aus Amateuren und Strukturen, die ihren Ansprüchen nicht immer genügen. Der Schweizerische Kirchengesangsbund versucht, seine Chöre deshalb zu ermutigen, ihre Strukturen zu professionalisieren. «Dazu gehört auch, dass man überlegt, ob man kleine Chöre nicht besser zusammenlegt», so der Leiter der Geschäftsstelle, Markus J. Frey. Eine Massnahme, die man derzeit auch bei vielen weltlichen Chören beobachten kann.
Bleibt zu hoffen, dass die verbindende Kraft des Singens bald wieder neue Allianzen schmiedet. Für den Contrapunkt-Chor hat das funktioniert. «Inzwischen sind wir wieder zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen», sagt Kathrin Urscheler. «Das hat Monate gedauert, doch zusammen singen ist sehr heilsam.»
Es ist auch kein neues Phänomen. Die Ursache ist schlicht: Früher gab es weniger Freizeitangebote und man war weniger Mobil. Im Männerchor z.B. war man damals , weil es da ein "eigenes Lokal" gab, man unter die Leute kam und es zwei, drei Mal im Jahr ein Reisli oder Fest gab.
Heutzutage ist jeden Samstag was los und alle haben ein Auto oder können mit jemand mitfahren.