Schweiz
Leben

Schweizer Suizidhelferin stand jahrelang unter falschem Verdacht

«Habe heute noch Panikattacken»: Suizidhelferin stand jahrelang unter falschem Verdacht

Jetzt hat ein Gericht den Fall Priska Preisig rechtskräftig eingestellt. Er zeigt, dass das Schweizer Recht liberaler ist, als Strafverfolger meinen. Die Ärztin hat gewonnen – aber auch viel verloren.
04.05.2024, 19:0204.05.2024, 19:03
Andreas Maurer / ch media
Mehr «Schweiz»
Gezeichnet vom Kampf gegen die Kriminalisierung der Suizidhilfe: Erika Preisig.
Gezeichnet vom Kampf gegen die Kriminalisierung der Suizidhilfe: Erika Preisig.Bild: Severin Bigler (Liestal, 2021)

Vor acht Jahren stand Erika Preisig, Ärztin und Suizidhelferin, auf einem Balkon eines Pflegeheims in Münchenstein BL. Neben ihr befand sich Frau Meyer (Name geändert), eine 66-jährige Bewohnerin, und zeigte auf den Asphalt vier Stockwerke unter ihnen. Die Patientin sprach eine Drohung aus. Wenn Preisig ihr nicht helfe, ihr Leben zu beenden, werde sie es mit einem Sprung in die Tiefe selber tun.

Die Patientin litt an Schmerzen im Hals und im Magen. Ihre Krankheitsgeschichte umfasste tausend Seiten, aber keine klare Diagnose. Psychiater meinten, die Patientin bilde sich die Schmerzen bloss ein. Doch dieser Befund ergab keinen Sinn. Denn ihre Speiseröhre war so stark entzündet, dass diese zu bluten begann, als ein Arzt sie mit einem Instrument berührte.

Am Schluss ernährte sich Frau Meyer nur von Joghurts und Suppen und wog noch 50 Kilogramm. So wollte sie nicht mehr leben. Weitere Abklärungen lehnte sie ab, weil sie das Vertrauen in die Medizin verloren hatte.

Nur einer Ärztin vertraute sie noch: Erika Preisig. Diese geriet dadurch in ein Dilemma. Um juristisch auf der sicheren Seite zu sein, hätte sie ein psychiatrisches Gutachten einholen müssen. Ein Psychiater hätte bezeugen müssen, dass die Patientin urteilsfähig ist und ihre gesundheitliche Situation einschätzen kann. Doch Preisig fand in dieser Zeit keinen Psychiater für diese heikle Aufgabe.

Preisig ist ein emotionaler Mensch. Im Zweifelsfall entscheidet sie mit dem Herzen. Also erfüllte sie Frau Meyers letzten Wunsch. Eine Zweitmeinung eines Hausarztes musste genügen.

Auszug aus der Patientenverfügung von Frau Meyer.
Auszug aus der Patientenverfügung von Frau Meyer.Bild: zvg

Im Juni 2016 setzte Preisig eine Infusion in die Handvene von Frau Meyer. Eine Videokamera dokumentierte die Szene. Auf die Frage, warum die Patientin sterben möchte, sagte sie: «Weil ich meine Schmerzen nicht mehr haben möchte und froh bin, von der Welt gehen zu können.» Dann drehte sie das Rädchen der Infusion auf, und eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital sickerte in ihren Blutkreislauf.

Sie schlief ein, und ihr Herz hörte auf, zu schlagen. Damit ging ein von Einsamkeit geprägtes Leben zu Ende. Acht Leute erschienen zur Abdankung.

Später, als der Fall vor Gericht kam, erschien ein viel grösseres Publikum. Die Baselbieter Staatsanwaltschaft klagte Preisig wegen vorsätzlicher Tötung an. Sie solle ihre Patientin gegen deren Willen getötet haben. Die Mindeststrafe: fünf Jahre Gefängnis. Die Gefahr war real, da ein renommierter Gerichtspsychiater Frau Meyer posthum aufgrund der Akten für urteilsunfähig erklärte.

Preisig hielt die Aussicht, möglicherweise im Gefängnis zu sitzen, während ihre Enkel gross wurden, für unerträglich. Sie erlitt eine Autoimmunerkrankung und verlor ihre Haare. Sie fühlte sich ausgebrannt und entschied deshalb 2022, keine neuen Mitglieder für ihre Suizidhilfeorganisation mehr aufzunehmen. Heute sagt sie: «Das Strafverfahren hat meine Gesundheit ruiniert.»

Eine Kämpferin verliert ihren Kampfgeist

Preisig war international bekannt als Aktivistin für eine weltweite Legalisierung der Suizidhilfe. Eigentlich wollte sie auch im Strafprozess kämpfen und dem Druck standhalten. «Doch mein Körper hat mir auf eine brutale Art gezeigt, dass ich einen Teil meines kämpferischen Seins verloren habe», sagt sie. Bis heute leide sie darunter: «Ich habe immer noch Panikattacken und Schlafstörungen.»

Vor dem Prozess: So sah Preisig 2015 aus.
Vor dem Prozess: So sah Preisig 2015 aus.Bild: Juri Junkov

Und dies, obwohl sie ihren Fall eigentlich gewonnen hat. Kürzlich hat ihn das Kantonsgericht Baselland – bisher unbeachtet von der Öffentlichkeit – rechtskräftig eingestellt. Damit steht fest: Preisig hat alles richtig gemacht und ist zu hundert Prozent unschuldig. Der Staat muss die Kosten ihres Verteidigers und des Verfahrens von insgesamt 180'000 Franken übernehmen.

Der Fall zeigt die brutale Dynamik eines Strafverfahrens auf. Die Anklage erhielt die grösste Aufmerksamkeit. Danach nahm diese ab, während der Fall Preisig seinen Weg durch die Instanzen nahm und die erwiesene Schuld immer kleiner wurde. Am Schluss hob das Bundesgericht auch den letzten Schuldspruch auf und wies den Fall an die Vorinstanz zurück. So kam es nun zum faktischen Freispruch, den aber nur mitkriegt, wer die Gerichtsdatenbank konsultiert.

Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer beanspruchen Suizidhilfe

Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer beanspruchen Suizidhilfe
Bild: Quelle: Bundesamt für Statistik Grafik: let/ch media

Suizidhelfer bewegen sich in der Schweiz in einer rechtlichen Grauzone. Das Strafgesetz verbietet einzig Suizidhilfe «aus selbstsüchtigen Beweggründen». Der uralte Paragraf sollte zum Beispiel verhindern, dass jemand dadurch schneller an sein Erbe kommt.

Sonst ist Suizidhilfe erlaubt, solange Ärzte die allgemeinen Gesetze einhalten. Was das bedeutet, klären die Gerichte mit ihrer Rechtsprechung. Es gehört deshalb zum Job einer Suizidhelferin, sich diesen Verfahren zu stellen.

Lass dir helfen!
Du glaubst, du kannst eine persönliche Krise nicht selbst bewältigen? Das musst du auch nicht. Lass dir helfen.
In der Schweiz gibt es zahlreiche Stellen, die rund um die Uhr für Menschen in suizidalen und depressiven Krisen da sind – vertraulich und kostenlos.

Die Dargebotene Hand: Tel 143, www.143.ch
Beratung + Hilfe 147 für Jugendliche: Tel 147, www.147.ch
Reden kann retten: www.reden-kann-retten.ch

Preisig entgegnet: «Ein Mann kann so einen Prozess vielleicht besser wegstecken. Als eher feinfühlige Frau habe ich aber viele Narben davongetragen. Die Vorwürfe haben meine Psyche verletzt.»

Deshalb mag sie sich nicht richtig freuen, dass sie mit ihrem Strafprozess Pionierarbeit geleistet hat. Erstmals stellten die Gerichte fest, dass ein psychiatrisches Gutachten in einem solchen Fall nicht zwingend nötig ist.

Sogar für gesunde Personen ist Suizidhilfe erlaubt

Parallel dazu endete auch das Strafverfahren gegen den Genfer Arzt Pierre Beck mit einem rechtskräftigen Freispruch – nach siebenjährigem Verfahren. Er hatte einer gesunden 86-jährigen Frau, die gemeinsam mit ihrem kranken Ehemann sterben wollte, die tödliche Dosis verschrieben.

Freigesprochen: der Genfer Arzt Pierre Beck.
Freigesprochen: der Genfer Arzt Pierre Beck.Bild: Salvatore Di Nolfi / Keystone

Das Bundesgerichtsurteil widerlegt ein verbreitetes Missverständnis, wonach Suizidhilfe nur bei unheilbar kranken Menschen erlaubt sei. Dabei werden stets die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zitiert. Doch das ist ein Verein, der zwar ethische, aber keine rechtlichen Regeln aufstellen kann. Deshalb hat das höchste Gericht Beck kürzlich freigesprochen und klargestellt, dass auch Suizidhilfe für gesunde Personen erlaubt ist.

Denn: Würde der Arzt seiner lebensmüden Patientin eine Pistole geben, würde er sich nicht strafbar machen. Deshalb dürfen Strafrichter für das mildere Mittel, den Tod durch Natrium-Pentobarbital, nicht strengere Regeln aus dem Heil- oder Betäubungsmittelgesetz ableiten.

Vor allem ältere Frauen wählen den assistierten Suizid

Vor allem ältere Frauen wählen den assistierten Suizid
Bild: Quelle: Bundesamt für Statistik Grafik: let/ch media

Die beiden Fälle zeigen: Das Schweizer Recht ist liberaler, als Strafverfolger meinen. Deshalb sind diese damit gescheitert, zwei der prominentesten Schweizer Suizidhelfer zu kriminalisieren.

Preisig müsste sich daher nicht mehr vor der Justiz fürchten, solange sie sorgfältig arbeitet. Doch sie sagt: «Ich habe jetzt vor jeder Freitodbegleitung Angstzustände.» Denn nach jedem Suizid eröffnet die Staatsanwaltschaft standardmässig ein Strafverfahren. Preisig befürchtet, dass sie deshalb irgendwann wieder vor Gericht landet. Sie wünscht sich, dass die Politik diese Kriminalisierung der Suizidhilfe abschafft.

Als Zehnjährige erlebte Preisig ihre erste Sterbebegleitung

Mit dem Tod war sie schon als Kind konfrontiert. Ihre erste Palliativbegleitung erlebte sie als Zehnjährige. Damals wohnte sie ein Jahr in Australien bei ihren Onkeln, die eine grosse Gärtnerei betrieben. Dort arbeitete sie mit und musste in dieser Zeit nicht in die Schule.

Ihre wichtigste Bezugsperson war damals ihr Grossvater, der ebenfalls dort lebte. Doch dieser hatte sechs Monate nach ihrer Ankunft Husten und einen schwarzen Knoten auf der Brust. Es war ein Melanom, schwarzer Hautkrebs. Der Arzt entdeckte ihn viel zu spät, um etwas dagegen zu machen. Damit stand fest, dass er bald sterben werde.

Von da an hatte die kleine Erika jeden Tag die Aufgabe, ihn auf eine Matratze zu betten, die sie auf eine hölzerne Schubkarre legten. So schob sie ihn überall hin, wo sie gerade in der Gärtnerei arbeiteten. «Ich war stolz, dass ich diese Verantwortung für Grossvater übernehmen durfte, gab ihm zu trinken und suchte immer ein Schattenplätzchen für ihn in unserer Nähe», erzählt sie. Nach einigen Wochen lag er eines Morgens tot im Bett. Für sie war es eine schöne Erfahrung, wie friedvoll er starb.

Erika Preisig in ihrem Sterbezimmer: Das Hundebild und die Gegenstände auf dem Fensterbrett sind Geschenke von verstorbenen Patienten und ihren Angehörigen.
Erika Preisig in ihrem Sterbezimmer: Das Hundebild und die Gegenstände auf dem Fensterbrett sind Geschenke von verstorbenen Patienten und ihren Angehörigen.Bild: Severin Bigler

Als sie später Ärztin wurde und ihr Vater sich von einem Hirnschlag nicht erholte, wollte sie auch ihn palliativ begleiten. Doch er lehnte dies ab und wollte kurzen Prozess machen. So leistete sie als junge Ärztin zum ersten Mal Suizidhilfe – und fand ihre Berufung. «So glücklich wie bei einem ärztlich assistierten Freitod habe ich in der Palliativmedizin noch kaum jemanden sterben sehen», sagt sie.

Deshalb will sich die 65-Jährige weiterhin als Suizidhelferin und Aktivistin engagieren. «Bis ich vielleicht in zwanzig Jahren selber auf diese Weise sterbe.» Sie hofft, dass es bis dann eine Liste mit Hausärzten gibt, die Suizidhilfe leisten – und Organisationen wie ihre deshalb gar nicht mehr nötig seien.

(aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Leute, die du im Flieger nicht in deiner Nähe haben willst
1 / 23
Leute, die du im Flieger nicht in deiner Nähe haben willst
Sowas muss bequem sein.
bild: imgur

Auf Facebook teilenAuf X teilen
Arnold Schwarzeneggers starke Botschaft gegen Hass und Antisemitismus
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
48 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Ich-möchte-verstehen
04.05.2024 20:16registriert April 2022
Meine Ex-Frau und Mutter meiner 3 Kinder ist aus psychischen Gründen mit Exit aus dem Leben gegangen. Es war sehr sehr hart für alle - trotzdem bin ich Exit und der Möglichkeit so aus dem Leben zu scheiden dankbar. Denn was vorher war, Suizidversuche, Intensivstation-Aufenthalte, halb tot gefunden werden durch meine Kinder, ... war der blanke Horror. Letztlich war die "geordnete" Sterbehilfe bei einem Menschen, der einfach nicht mehr leben wollte, eine Erlösung für alle Beteiligten.
1795
Melden
Zum Kommentar
avatar
Hundshalter Leno
04.05.2024 19:22registriert September 2023
Mit Blick auf das Thema der Resilienz habe ich nicht das Gefühl, dass die Auswirkungen einer solchen Situation geschlechterspezifisch sind. Aber das nur am Rand.
Ich finde es schön und lobenswert, dass ihr darüber berichtet. Oft beginnen solche Fälle mit einem riesigen öffentlichen Sturm. Plötzlich verschwindet das Interesse und ein Freispruch wird maximal als Randnotiz irgendwo vermerkt. Und das nachdem die Betroffenen, wie in diesem Fall zum Beispiel, Jahre durch die Hölle mussten und am Pranger standen.
1719
Melden
Zum Kommentar
avatar
lonicera
04.05.2024 20:05registriert Mai 2021
Danke Frau Preisig für Ihren Mut und Einsatz. Alles Gute für Sie und Ihre Gesundheit 🍀
1376
Melden
Zum Kommentar
48
Winistorf SO: Spaziergängerin findet ausgebranntes Auto – Fahrer tot

Ein Autofahrer ist am Freitag bei Winistorf SO tödlich verunfallt. Der 71-Jährige kam aus ungeklärten Gründen von einem Waldweg ab. Das Auto fuhr dabei eine Böschung hinunter und geriet in Brand, wie die Solothurner Kantonspolizei am Samstag mitteilte.

Zur Story