Es ist immer so eine Sache, über Bilder zu schreiben. Es fühlt sich etwas überflüssig an, schliesslich haben sie ihre eigene Sprache. Man muss nur richtig hinsehen. Das gilt ganz besonders für den spanischen Maler Francisco de Goya (1746–1828). Und nicht nur, weil viele seiner Zeichnungen und Radierungen so winzig sind und in nur schwach beleuchteten Räumen des sonst so lichtdurchfluteten Museums hängen.
Es sind Goyas Gesichter. Sie verraten alles. Man steht davor und denkt: So ist der Mensch. Und eigentlich will man ihn nicht so sehen. In all seiner Hässlichkeit.
Machtgier, Lust, Angst, Wahnsinn, Gewalt, alles ist da, starrt einen aus gemalten, gezeichneten, getuschten Augen an – und setzt sich tief im Innern fest. Goyas Gesichter wird man nicht mehr los.
Wie gierig dieser Arzt oder Mönch im dunklen Mantel das Gesicht seines Patienten befingert und wie furchtbar unbedarft es dieser zulässt. Seine Gutgläubigkeit tut weh, und doch will man es ganz genau sehen, gleichsam zum Untersuchenden werdend, tritt man ganz nahe heran an die Zeichnung, riecht schon den schlechten Atem, der aus jenem widerlichen Mönchsschlund strömt, und wartet nur darauf, bis ihm ein zäher, träger Speichelfaden folgt.
Dieser Mann im dunklen Mantel ist es, der darüber entscheidet, was ist – und was nicht. Was krank ist und was nicht. Er hat die Macht. Und darum geht es in Goyas Bildern. Er malt Mächtige und Machtlose. Und ihr Verhältnis zueinander – ohne jedoch zu moralisieren.
Er zeigt, wie es ist.
In seiner ersten Schaffensphase – von 1775 bis ca. 1807 – malte Goya die marode spanische Monarchie und seine Protagonisten. Während diese um ihre Existenzberechtigung kämpfte in einem Europa, das von der Französischen Revolution erschüttert worden war, stieg er vom Wandteppich-Gestalter für die königlichen Gemächer zum Ersten Hofmaler auf.
Goya arrangierte sich mit den Mächtigen, musste es, weil sie ihn dafür bezahlten. Aber er liess sich dabei nicht ins vorherrschende klassizistische Korsett zwängen. Er stillte nicht jenes Bedürfnis nach Harmonie, rationaler Nüchternheit und Strenge. Er weigerte sich, das einstimmige Loblied auf die Vernunft anzustimmen.
Er schmuggelte lieber seine ganz eigene Wahrnehmung der Menschen, die er malte, mit ein. Selbst in die repräsentativen Porträts der Königsfamilie. Als offensichtlichster Ausdruck davon erscheint er selbst in den Bildern – so wie einst sein Vorbild Velázquez in seinem berühmten Gemälde «Las Meninas».
Goyas Figuren sind nicht mächtig, vielmehr wirken sie sterblich, fleischlich – menschlich.
Der Maler unterwandert die Gemalten, und diese scheinen es nicht einmal zu bemerken. Am prächtigsten gelingt Goya dies in seinem letzten königlichen Porträt von Karls Sohn Ferdinand VII. Jenem Mann, der, kaum den Thron angewärmt, die geltende liberale Verfassung von Cádiz für nichtig erklärte und auf deren Asche einen beispiellos absolutistisch-inquisitorischen Folter-Apparat errichtete.
Goya aber macht ihn zum Popanz, zum Prahlhans, der sich mit allen Insignien der Macht schmückt und dabei wirkt wie ein überladener Weihnachtsbaum.
All diese in ihrer Opulenz so plumpe Darstellung von Macht, als müsse der König sie dem Betrachter androhen, weil dieser sie ihm sonst nicht abnimmt.
Ferdinands linke Hand schiebt den purpurnen Hermelinmantel zurück, damit man den goldenen Griff seines Degens bloss nicht übersieht, während er mit der rechten Hand den Kommandostab förmlich umklammert, als fürchte er, jemand würde kommen und ihm den Stab entreissen.
Doch die Mächtigen schienen sich für Goya nur malen zu lassen, wenn er sich gleichzeitig auch denjenigen ganz unten in der Hierarchie widmete.
Den Verfolgten und Wahnsinnigen, den Armen und Kranken, den Hexen und Prostituierten.
Im Jahre 1799 schuf er «Los Caprichos» (Launen oder Einfälle), durch eine schwere Krankheit inzwischen gehörlos geworden. Mit diesen 80 Blättern wollte er sich freimachen von der Hofmalerei und selbständig auf dem freien Markt bestehen.
Sie erschienen in einer Auflage von 270 Stück und waren besonders für die aufklärerisch wirkenden Eliten von Interesse, da sie in Goyas Zeichnungen denselben Kampfwillen gegen Aberglauben und kirchliche Unterdrückung zu spüren glaubten, der auch sie beseelte.
Doch Goya lässt sich nicht so leicht für eine Seite einspannen. Er stellt wohl die Missstände dar, denen er begegnet, er weiss aber ebenso, dass die Vernunft nicht das Einzige ist, das im Menschen wirkt. Was passiert, wenn sie schläft? Oder wenn sie träumt?
Jener verheerende Dualismus von Vernunft und Wahnsinn ist das Thema der Caprichos. Und Goyas traurige Erkenntnis, dass dem Wahnsinn eben nicht beizukommen ist. Dass jegliche Aufklärung, jeglicher Versuch ihn gänzlich zu domestizieren, ihn zu sublimieren, scheitern muss.
Denn das Böse fasziniert, es stösst ab und zieht gleichzeitig an, und diesen ewig währenden Kampf zwischen lebensbejahenden und lebensvernichtenden Kräften ficht Goya in seinen Bildern aus.
Und die Gräuel des Spanischen Unabhängigkeitskrieges sollten den Maler nur bestätigen.
Napoleon schaffte zwar die Inquisition ab, dafür brachte er Spanien den Krieg. In Madrid brach am 2. Mai 1808 ein Aufstand gegen die französischen Besatzungstruppen aus, doch anders als im Rest von Europa war dies kein leicht abzuwendendes Scharmützel, sondern ein blutiger, sich bald über das ganze Land ziehender Guerillakrieg.
Kein einziger Spanier hatte auf den neu eingesetzten König, Napoleons Bruder Joseph Bonaparte, gewartet. Und die ins Land gebrachten Errungenschaften des Fortschritts – eine liberale Verfassung und die Gesetze des Code Civil – brachten nicht die erhoffte Versöhnung mit der Bevölkerung. Im Gegenteil.
Mönche wiegelten die Volksmassen gegen die Besatzer auf, und diese schritten mit Mistgabeln zur Verteidigung der gottgegebenen alten Ordnung. Und während gefangenen Franzosen «die Köpfe mit Hacken zertrümmert» und Lazarettinsassen «bei lebendigem Leib in Kessel mit kochendem Öl geworfen» wurden, vergewaltigten die Franzosen spanische Jungfrauen und Nonnen.
Bis 1814 waren 200'000 bis 300'000 Franzosen und mehr als doppelt so viele Spanier tot. Und Goya hatte bis dahin eine Serie von 80 Aquatintaradierungen mit dem Titel «Los desastres de la guerra» (Die Schrecken des Krieges) erschaffen.
In jenen unerträglichen Bildern zeigt Goya, was der Krieg mit den Menschen macht; und zwar egal, welcher Nation sie angehören, welchem Geschlecht: Hier schlachten Frauen und Männer, Zivilisten und Soldaten, Franzosen und Spanier einander schonungslos ab. Es gibt kein Gut gegen Böse, das Gute ist ganz und gar abwesend. Da ist ausschliesslich diese grausame, sadistische Freude am Schmerz und am Tod des anderen.
Marquis de Sade (1740–1814), nach dem jene gewaltvolle Lust benannt worden ist, war ein Zeitgenosse von Goya. Ein Mann, der durch jenes sogenannte Zeitalter der Vernunft spazierte, und alles Gute, Edle, Mitfühlende als Heuchelei verschrie.
Die Kirche, die seit Jahrhunderten für die Reinhaltung des einzig wahren Glaubens ungezählte Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennt, der Staat, der für seine Eroberungskriege Myriaden von Soldaten auf den Schlachtfeldern hinmorden lässt, und die Gesellschaft, die ihre hässliche Fratze, ihre abgründigen Neigungen hinter der Fassade des Anstands verbirgt! Aber ihn, der offen ausspricht und auslebt, was der Mensch Monströses ist, steckt man in die fauligen Kerker der Bastille!
Wie Goya hatte auch Sade den Krieg gesehen. Hatte gesehen, wie das rastlose Fallbeil der Jakobiner tausende Köpfe von Körpern trennte – alles im Namen der Befreiung des Menschen, im Namen der Tugend. Diesen blutigen Widerspruch nutzend, forderte jener selbsternannte Libertin die totale Freiheit; das straflose Morden der Mitbürger.
Um sein Wesen zu rechtfertigen, philosophierte Sade das Böse als Normalzustand des Menschen herbei. Er feierte sich als Umdeuter aller Werte und erschöpfte sich, anders als später Nietzsche, in einem absoluten Nihilismus.
Und Goya?
Wenn auch er nicht mehr zwischen Opfern und Tätern unterscheidet, wenn keine Kritik mehr sichtbar ist in seinen Gewaltdarstellungen, macht ihn das zum simplen Reproduzenten des Bösen – und uns, die wir seine Werke betrachten, zu Voyeuren ebendieser Grausamkeiten?
Vielleicht.
Aber am Ende lässt sich Goya auch für diese Seite nicht wirklich einspannen. Er ist weder der Maler der blossen Vernunft noch der des reinen Wahnsinns. Goya wohnt im Widerspruch, in der Ambivalenz, und ebenda wird man ihn finden.
Wo ein fast göttlich gnadenvolles Licht auf gottverlassene, gnadenlos dahinsiechende Pestkranke fällt, dort ist Goya, der Gott der Gegensätze, zuhause.
Der Artikel wurde mit Hilfe des vom Ausstellungskuratoren Martin Schwander herausgegebenen «Goya»-Katalogs und seiner Führung durchs Museum erstellt.