Im Jahr 2014 wurde watson geboren. Die räudige und doch liebenswerte Katze unter den Schweizer Medien. Ein bisschen strange, eine Spur zu auffällig, aber von einer kreativen Verschwendungssucht, die bald viele von euch einzufangen wusste. 2014 sang eine wunderschöne österreichische Dragqueen namens Conchita Wurst am ESC, sang von ihrer Wiedergeburt, davon, dass sie wie ein Phoenix aus der Asche ihres alten Selbst aufgestiegen sei, sie war ein bisschen strange, viel zu auffällig ... und die ESC-Welt legte sich ihr zu Füssen. Conchita (25) gewann. Wir waren Conchita.
Im Jahr 2024 singt Nemo (24) aus der Schweiz darüber, wie es war, «The Code» zu brechen, sich aus der Binarität der «Nullen und Einsen» zu befreien und zu sich selbst zu finden. Nemo ist unser non-binäres Elfenwesen, das seit Wochen gut 25 Prozent aller, die ESC-Wetten abschliessen, auf den ersten Platz setzen. Conchita galt 2014 erst kurz vor dem Finale als Favoritin.
Conchita und Nemo erzählen eine ähnliche Geschichte, die des Bruchs mit den Geschlechterzuschreibungen und ihrer persönlichen Befreiung. Conchitas Performance war im Vergleich majestätischer, ihre Stimme voller als die von Nemo, dafür ist Nemos Nummer weit interessanter, ist grosse Rock-Rap-Oper, die «Bohemian Rhapsody» dieses Frühlings auf jeden Fall. Und Nemos Gewinnchancen am 11. Mai in Malmö scheinen nicht nur intakt, sondern sogar überragend.
Und da wir hier im Universum der Jahreszahlen und Vergleiche gelandet sind, wenden wir uns doch einmal der ebenso glorreichen wie miserablen Schweizer ESC-Vergangenheit zu. Die heuer dank Nemo möglicherweise zu einem glücklichen neuen Höhepunkt findet.
Das Beste kommt zuerst!
Es war der unfassbarste, perfekte Krimi, der sich 1988 in Dublin vollzog. Oder wie der Moderator sagte: «Nun, ich muss euch mitteilen, dass wir Agatha Christie angestellt haben, um das Drehbuch für heute Nacht zu schreiben.» In der allerletzten Sekunde erst entschied sich nämlich, dass die Schweiz gewonnen hatte. Mit einem einzigen Punkt vor Grossbritannien.
Die finale Entscheidung fällte Jugoslawien mit 6 Punkten für uns, 0 für den Gegner und 12 für das sowieso abgeschlagene Frankreich. Und dann stand es 137:136. Für die knapp 20-jährige Kanadierin, die als Nummer 9 in den Wettbewerb ging und mit einer grandiosen Stimme und einer ebensolchen Selbstsicherheit allen die Show stahl. Sie hatte «Geht nicht ohne mich» in unsere Wohnzimmer hineingesungen, und das TV-Publikum begleitete sie begeistert zum Triumph.
Getextet hatte den Hit übrigens die Tessinerin Nella Martinetti, die Musik hatte der türkisch-schweizerische Komponist Atilla Şereftuğ geschrieben. Doch wie waren sie überhaupt zu der Kanadierin, die in ihrer Heimat schon ein ziemlicher Star war, gekommen? Şereftuğ, der den Auftrag hatte, den Schweizer ESC-Beitrag zu schreiben, hatte ein Demotape von Dion gehört und beschlossen, dass sie die eine war. Er komponierte eine Melodie, schickte sie an Martinetti, die den Text beisteuerte, und die beiden flogen nach Montreal, um den Song mit ihrer Wunschsängerin aufzunehmen.
Exakt 25 Jahre vor Céline Dion hatte die Israelin Esther Ofarim schon einmal fast das gleiche Lied gesungen: Hatte Dion andere Menschen angefleht, nur mit ihr zusammen zu verreisen (Gönd nid wäg ohni mi), so versuchte Ofarim in «T'en vas pas» (Gang nid wäg), jemanden zum Zusammenbleiben zu bewegen. Mit ganz gutem Erfolg, es reichte ihr immerhin zu einem zweiten Platz. Ofarim, die auch Schauspielerin war und etwa im Hollywood-Monumentalfilm «Exodus» von Otto Preminger mitgespielt hatte, lebte in den 60ern mit ihrem ebenfalls singenden Mann Abi Ofarim in Genf.
Der deutsche Musiker Gil Ofarim stammt aus einer späteren Ehe von Abi, er sorgte 2021 für einen Skandal, als er behauptete, Hotelangestellte in Leipzig hätten ihn aufgrund seiner Davidstern-Kette nicht einchecken lassen. Seine Antisemitismus-Vorwürfe erwiesen sich später als haltlos.
Ganze 18 Jahre mussten vergehen, bis Gjon und sein Tränenmeer die Schweiz wieder aufs Treppchen katapultierten. Seine Frisur war ähnlich lockig und eigenwillig wie die von Céline Dion, Kostüm und Performance etwas gewöhnungsbedürftig, aber Song und Stimme waren einfach sehr, sehr schön. Und gross wie das dunkle Universum an einem Tag, der vor lauter Trauer endlos scheint. Toll, toll, toll. Und die Schweizer Sad-Boy-Ballade war erfunden. Eine Rezeptur, die weder 2022 von Marius Bear mit «Boys Do Cry» (er wurde 17.) noch 2023 von Remo Forrer mit «Watergun» (20.) erfolgreich umgesetzt werden konnte.
Gerade unter unseren Viertplätzlern gibt's besonders viele Gewinner der Herzen. Hier sind drei.
«Iiiiiiiirgendwoheeeer kommt übers Meer eine Liebesmelodiiiie!» Ein steiler Einstieg. Und wie sich Christa Williams aus einem Schweizer Bilderbuch blättert, ist bemerkenswert. Die Sehnsucht gehört allerdings nicht der Heimat, sondern ganz der «Fremde». Wo sich irgendwo einmal das «Märchen vom Glück» vollzogen hatte. Liebestourismus halt. Ein ungemein schwülstiger Schmachtfetzen, dem man sich einfach nicht entziehen kann.
Ahhh, the beauty of it all! Wie anrührend ist die Stimme von Sue! Und erst zwanzig Jahre später wurde die verpönte Panflöte in Shakiras Welthit «Whenever, Wherever» ähnlich überzeugend eingesetzt wie hier von Peter Reber. Der schönste Schweizer ESC-Beitrag, der je geschrieben wurde. «Ich ohne dich, was täte ich. Ich könnt nicht atmen, gäb's dich nicht». Peter, Sue & Marc haben mit diesem Song quasi den Schmetterling des Schweizer Musikschaffens schlüpfen lassen! Und übrigens der vierte von vier Auftritten der Band am ESC. Und der erste von vier ESC-Songtexten von Nella Martinetti.
Ach, der Lüggu! Er befreite uns aus dem Loch der absoluten Erfolglosigkeit, das sich die Schweiz in den Nuller- und Zehner-Jahren gegraben hatte. Er machte das ganz unwiderstehlich, locker, unbekümmert, tanzbar. «Despacito» made in Switzerland. Und die Welt tanzte mit.
Was soll man dazu sagen, ohne sich die Zunge vor Bösartigkeit zu verbrennen? Also am besten nichts. Aber von DJ BoBo hatten nicht nur wir wesentlich mehr erwartet. Und von den Lovebugs und Michael von der Heide möglicherweise auch, sorry Boys. Alle anderen haben sich wahrlich nicht in unsere Erinnerung gefressen.
Tja, 9 Mal waren wir das letzte Land der ESC-Welt. Und damit es gleich noch schlimmer wird, hier noch die Top Five der Loser der ESC-Geschichte:
Das war bisher nicht Englisch, sondern mit weitem Abstand Französisch. 9 Mal findet sich unsere zweite Landessprache unter den Rängen 1 bis 4, die 3 Bestplatzierten (Lys Assia, Céline Dion, Gjon's Tears) sangen französisch. Trotzdem wird Nemo heuer mit «The Code» den ESC gewinnen. Jedenfalls, wenn es nach uns geht.
Wir von watson werden den ESC 2024 selbstverständlich wieder begleiten. Am 7. (1. Halbfinale), 9. (2. Halbfinale mit Nemo) und 11. Mai (Finale). Wie immer im Liveticker. Mit eurer Beteiligung. Und erst noch mit einer Mitarbeiterin in Malmö!