Ihr habt's alle mitbekommen: Für die Schweiz fährt Nemo nach Malmö an den Eurovision Song Contest und präsentiert den Song «The Code». Offenbar stehen die Erfolgschancen dieses Jahr gar nicht so schlecht, klettert «The Code» doch seit seiner Veröffentlichung stetig nach oben in der Gunst der Buchmacher.
Doch wie steht es mit Nemos Konkurrenz? Und wie fügt sich «The Code» in das diesjährige Potpourri an ESC-Songs ein?
Wie jedes Jahr lassen sich Songs nach Kriterien kategorisieren: Nach Musikgenre, etwa. Oder nach Absicht. Und stets lassen sich jeweils Trends ausmachen. Hier ein Versuch, die Beiträge von Eurovision 2024 etwas einzuordnen:
Fangen gleich bei einer Subgruppe von Beiträgen an, zu der dieses Jahr auch die Schweiz gehört – die der Eklektik. Das sind Songs mit musikalischen Stilbrüchen, Over-the-Top-Dramatik und überkanditelter Performance. Mögt ihr euch an den hyperaktiven Hühner-Gesang von Netta erinnern, die 2018 gewann? So was in die Richtung. Dies ist ein mutiger Ansatz, denn was sich als Konzept durchaus spannend anhört, kann schnell mal als berechnend rüberkommen («guckt mal, wie kreativ wir doch sind!»). Doch gut ausgeführt, kann das Ergebnis eindrucksvoll ausfallen. Zu dieser Kategorie gehört heuer Nemos «The Code».
Ferner auch Griechenland und Italien irgendwie auch. Und oho ja: Irland ... aber dazu unten mehr.
Ihr wisst schon – ein bisschen Power-Ballade, ein bisschen Electronica, Lady-Gaga-Refrains, grosse Stimmen, ernste Mienen, sexy Tanzeinlagen, Texte, in denen sich «fire» mit «desire» reimen. Mal steckt echtes Talent und Können dahinter, mal bleibt es beim Versuch. In anderen Worten: Business as usual.
Heuer wären das Albanien, Aserbaidschan, Belgien, Dänemark, Israel, Luxemburg, Malta, Slowenien und UK. Zypern, Georgien, Deutschland und Island, letztlich auch.
Kaum zu glauben, aber (leider?) wahr: Nicht wenige Beiträge suhlen sich heuer in Neunziger-Eurodance-Nostalgie. Fehlt nur noch der Scooter-Typ, der in Denglisch irgendwas herumbrüllt. Finnland und die Niederlande machen's Millenial-konform mit «Ironie» (doch, da gehören Gänsefüsschen hin), Österreich probiert es komplett humorbefreit mit «We Will Rave».
Litauen und Schweden gehen in eine ähnliche Richtung. Und Spanien und Australien machen einen auf Nullerjahre-Vocal-House.
Natürlich weist jegliche musikalische Einordnung gewisse Schnittmengen auf. So werden einige der bereits genannten Beiträge ebenfalls in den folgenden Kategorien zu finden sein. Etwa:
Dieser Ansatz hat eine lange Tradition bei Eurovision. Unvergessen bleibt etwa Drag Queen Verka Serduchka, die mit ihrem ordentlich bizarren Song «Dancing Lasha Tumbai» für die Ukraine 2007 antrat. Letztes Jahr war der finnische Beitrag «Cha Cha Cha» der unangefochtene Publikumsliebling (Loreen schaffte ihren Sieg nur aufgrund der Jury-Stimmen). Und siehe da: Kroatien, Estland, Finnland und die Niederlande hauen heuer in diese Kerbe.
Hey, der Finne nennt sich Windows95man und tritt in beigefarbenen Unterhosen auf ... ihr versteht schon.
Trends kommen und gehen, doch ein Evergreen des Eurovision-Multiverse wird nie verwelken: Ein wenig Ethno-Klänge, dazu noch Volkstrachten, Flöten, Hurdy-Gurdys, Bouzoukis, Zither und Co. und schon hat man den generischen ESC-Folklore-Beitrag.
Interessanterweise funktioniert dieser Ansatz auch bestens im Crossover mit anderen Musikstilen – Gothic Rock oder Rave, etwa. Armenien setzt dieses Jahr voll auf die Ethno-Karte. Griechenland, Moldawien, Norwegen und die Ukraine spielen ebenfalls mit Folklore-Elementen.
Auch das kommt immer wieder vor: Eine Rockband tritt an, in der irrigen Meinung, der ESC sei die perfekte Promo-Plattform für ihre Karriere. «Lasst euch von dieser Kommerz-Veranstaltung nicht blenden – im Herzen sind wir knallharte Rocker, imfall.» (Hey, gelegentlich klappt's sogar – siehe Måneskin und Lordi und ... öhm ... hmm).
Dieses Jahr gehören San Marino und Norwegen in diese Kategorie. Und Kroatien, auch ein bitzli.
Dieses Jahr eher untervertreten ist die Sparte der Gen-Z-Ladies mit interessanten Frisuren und einem Indie-Pop-Ansatz, ...
... der letztlich nicht allzu sehr aneckt. Heuer sind das Tschechien und Polen.
Die Schweiz schickte die letzten drei Jahre ausschliesslich Beiträge der Kategorie Sad Boi – sensible Jungs mit traurigen Balladen – ins Rennen ... und fuhr gar nicht schlecht damit (Gjon's Tears erreichte 2021 Platz 3, etwa). Doch vermutlich ist der Trend vorbei, denn dieses Jahr tritt nur Lettland damit an.
Doch dies ist nicht die einzige Ballade am diesjährigen Song Contest: Slowenien, Serbien und Portugal bringen die weibliche Variante, die der Moody Girlz.
Mögt ihr euch noch an die Hände waschende Serbin von 2022 erinnern? Nein, das war kein Klamauk à la «Dancing Lasha Tumbai» und auch kein buntes Allerlei wie Nettas «I'm Not Your Toy», sondern, ... naja, einer dieser WTF-Momente, wie es sie alle Schaltjahre mal im ESC gibt.
Dieses Jahr ist es Irlands Bambie Thug, die alle Register zieht: Horrorfilm-Ästhetik, schwarze Magie, Gothic Rock, Badminton mit einem Fasnachts-Monster und irgendwie geht es auch noch um Gender Identity. Okay, kapieren muss man's nicht, um zu verstehen, dass es letztendlich hammergeil ist.
Wie jedes Jahr macht Frankreich etwas, das niemanden ausser Frankreich interessiert. Nicht, dass dies schlecht wäre – Barbara Pravis «Voila» war ein grossartiges Old-School-Chanson mit jenem Zigaretten-zum-Frühstück-Vibe, den nur die Franzosen glaubwürdig hinbekommen. Und heuer ist es Slimane, der antritt mit einem Song namens – you guessed it – «Mon amour».
Bof, c'est superbe.
... dass der Litaue (Silvester Belt) nicht der Schweizer (Nemo) ist. Die sehen nur gleich aus.
Und auch: 2024 ist das Jahr der merkwürdigen Schreibweisen. Die Albanerin nennt sich BESA (alles Grossbuchstaben) und ihr Song, «TITAN» (jap, auch). Auch Armeniens LADANIVA; Aserbaidschans FAHREE, Dänemarks SABA, Deutschlands ISAAK, Luxemburgs TALI, Polens LUNA und Serbiens TEYA DORA bestehen alle auf Grossbuchstabierung. Spanien, Griechenland und Dänemark haben zudem Songtitel, DIE AUSSCHLIESSLICH MIT GROSSBUCHSTABEN GESCHRIEBEN WERDEN MÜSSEN.
Dafür heissen die ukrainischen Sängerinnen alyona alyona & Jerry Heil. Genau so – zweimal alyona und beides klein. Und nicht Jerry Hall, sondern ... ach.
Und den Award für «Nervigster Bandname kombiniert mit nervigstem Songtitel» geht an: 5MIINUST & Puuluup aus Estland mit ihrem Knaller «(Nendest) narkootikumidest ei tea me (küll) midagi»!