Eigentlich könnte es ganz leicht sein: «Ich bin Samira. Ich sage von mir, dass ich einfach auf Menschen stehe. Ich verliebe mich mehr in die Person und nicht in das Geschlecht.» Doch das ist für die 16-Jährige in ihrer Familie nicht sagbar. Ihre Mutter stammt aus Ägypten, ihr Vater aus Jordanien. Sie sind mit Homophobie aufgewachsen und verheimlichen sie ihren Kindern gegenüber nicht. Als Samira sich einmal gegen ihren Vater auflehnte, sagte dieser: «Was machst du einen auf Feminismus, bist du lesbisch oder was?»
Nicht nur Samiras Eltern äussern sich negativ über Homosexuelle. Ihre letzte Beziehung zerbrach, weil ihre Ex-Freundin sich nicht getraute, sich zu outen. Die Mädchen leben in Graubünden. Der Freundeskreis ihrer Ex-Freundin stammt aus Bergdörfern, «wo das Ganze noch nicht so richtig angekommen» sei, wie es Samira ausdrückt.
Sie ist eine von 15 queeren Kindern und Jugendlichen, denen die Journalistin und Soziologin Christina Caprez im Buch «Queer Kids» das Wort erteilt. Sie erzählen, wie sie sich in Personen des gleichen Geschlechts verliebten oder wie es ist, nonbinär oder trans zu sein. Die Porträtierten gewähren dabei einen tiefen Einblick in ihren Findungsprozess und in ihre Gefühlswelt. Und dies abseits der schrillen Töne, die in der Debatte rund um Queerness vorherrschen.
Einige von ihnen wissen, dass sie als Männer nur Männer oder als Frauen nur Frauen lieben werden. Andere beschreiben ihre Sexualität, und zum Teil auch Geschlechtsidentität, als fluid. Vielen war zu Beginn ihrer Auseinandersetzung ein Label wichtig. «Pan» oder «bi» – etwas, was ihren Gefühlen einen Namen gab. Insbesondere die älteren Jugendlichen distanzieren sich davon oft wieder. Etwa die 17-jährige Christelle, die sagt: «Wenn ich mich labeln müsste, dann wäre es wahrscheinlich pansexuell. Aber ich kann mich mit dem Label nicht so identifizieren. Darum sage ich einfach, ich bin queer.»
Für viele der porträtierten Jugendlichen ist ihre sexuelle Orientierung und teilweise auch ihr Geschlecht nicht etwas Gegebenes oder etwas Unveränderbares. Sie probieren und schliessen nichts aus. Das unterscheidet sie von den älteren Generationen, die sich an der binären Geschlechterordnung ausrichten. Das Buch liefert insbesondere jenen Menschen Antworten, die im 20. Jahrhundert zur Welt gekommen sind und heute mit Erstaunen auf diese bunten, jungen Menschen blicken. Aber nicht nur. Es gibt auch Kindern und Teenagern, die ausserhalb der regenbogenfarbenen Bubble aufwachsen, einen Einblick in das Kaleidoskop von Geschlecht und Sexualität.
Obwohl mehrere Porträtierte von queeren Klassen- oder Schulfreunden erzählen, sind viele von ihnen dennoch sehr vorsichtig, wem sie von ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität erzählen. Wer sich outet, macht sich verletzlich. Luan, 16 Jahre, aus dem Raum Basel, sagt, er wisse schon lange, dass er schwul sei. Lange habe er es jedoch verdrängt. Dies vor allem wegen seiner Klasse. «‹Schwul› war das Hauptschimpfwort, und es wurde viel gemobbt. Ich hatte grosse Angst, dass sie auch mich ins Visier nehmen», sagt Luan.
Schweigen – das kennt auch die 17-jährige Christelle aus dem Kanton Nidwalden. Sie, die sich sowohl von Männern als auch Frauen angezogen fühlt, sitzt immer mal wieder in Runden, in denen über queere Menschen gespottet wird. «Sie machen dumme Sprüche und lachen, während ich so daneben sitze und denke: Das ist nicht lustig. Aber ich sage nichts, weil es nichts bringt. (…) Ich will mich ja auch nicht selber blossstellen.»
Je nach Form der Queerness sind die Hürden respektive das Unverständnis im Umfeld höher. Oder wie es die 19-jährige Urnerin Aurelia ausdrückt: «Ich weiss, ich bin privilegiert, so dumm das tönt, als Lesbe auf dem Land. Schwule und nonbinäre Personen haben es schwerer. Bei mir ist es so: Ich bin lesbisch, und solange wir nicht darüber reden, geht es allen gut.»
Die porträtierten Kinder und Jugendlichen stammen vom Land und von der Stadt. Einige wachsen mit Eltern aus anderen Kulturen auf oder werden religiös erzogen. Andere wiederum sind in einem SVP-geprägten Umfeld gross geworden. Während die einen noch zur Schule gehen, arbeiten andere im Büro oder auf dem Bau. Ihre Biografien zeigen: Abwertungen oder gar Hass können alle treffen. Verständnis und Toleranz aber ebenso. So erfährt etwa der 15-jährige trans Junge Rayyan vorbehaltlose Unterstützung durch seinen irakischen Vater, der ihm auch half, einen genderneutralen arabischen Vornamen zu finden.
Auch der 16-jährige trans Junge Lou erfuhr von unerwarteter Seite volle Akzeptanz: von seinem SVP wählenden Chef. Lou macht eine Lehre als Elektriker, wobei er sich auf die Lehrstelle noch mit seinem Geburtsnamen bewarb. Während der Lehre outete er sich im Betrieb. Seither nennen sein Chef und dessen Bruder ihn Lou und verwenden männliche Pronomen. «Ich bin halt einfach ich, und solange ich gut arbeite, ist alles andere egal», sagt der Junge.
Allerdings: Viele der Porträtierten berichten von schlimmen Mobbingerfahrungen. Zum Teil über Jahre. Insbesondere die nonbinären und trans Jugendlichen erlebten die Schulzeit als Albtraum. Etwa Lara, 15 Jahre, aus dem Wallis. Seit sie sich erinnern kann, weiss sie, dass sie ein Mädchen ist. Bereits ab dem Kindergartenalter lackierte sie sich die Nägel, trug ihre Haare lang und spielte stets mit den Mädchen.
Als Sechstklässlerin outete sie sich als trans. Während ihre Freundinnen zu ihr hielten, begann ein jahrelanges Mobbing durch andere Gleichaltrige. Sie quälten Lara zuerst mit Worten, später auch körperlich – etwa mit Tritten. Ein Schulwechsel brachte nichts, das Mobbing setzte sich in der neuen Klasse fort.
Mehrere der porträtierten Jugendlichen litten an Depressionen oder und benötigten professionelle Hilfe. Einige von ihnen waren zeitweise in einer psychiatrischen Klinik. So auch die 19-jährige, lesbische Urnerin Aurelia. «Dass so viele Queere in der Psychiatrie sind, ist vermutlich kein Zufall. Queer zu sein, macht das Leben nicht einfacher», sagt sie.
Wie schwierig es für queere Jugendliche in der Schule sein kann, zeigt auch eine Studie der Universität Bern sowie der Pädagogischen Hochschulen Zürich und Bern. Von den 569 Befragten im Alter von 14 bis 19 Jahren gab mehr als die Hälfte an, sich aufgrund ihrer Queerness in der Schule unwohl oder nicht sicher zu fühlen. Den höchsten Wert wiesen die trans Jugendlichen mit fast 70 Prozent auf. Ein Viertel von ihnen hat deswegen die Schule schon einmal gewechselt.
Trans ist folglich nicht etwas, mit dem man sich Coolness überstülpen lässt. Im Gegenteil. Doch was ist mit den anderen queeren Formen? In der Zürcher Jugendbefragung bezeichneten sich 26 Prozent der Neuntklässlerinnen als «nicht oder nicht ausschliesslich heterosexuell». 2014 waren es 7,4 Prozent. Bei den Jungen stieg dies von 4,2 auf 8,9 Prozent an. Ist Queerness also ein Trend unter Jugendlichen, wie oft behauptet wird?
Psychologe Ad J. Ott hat die Studie zum Wohlbefinden von queeren Jugendlichen an den Schweizer Schulen geleitet. Er ordnet die Debatte im Buch folgendermassen ein: «Vielleicht ist es tatsächlich in einigen Jugendgruppen cool, queer zu sein. Aber wenn das Argument von den Erwachsenen kommt, ist mein Eindruck oft, dass es für diese einfach nicht ganz normal ist, so zu sein. Und das Einzige, was sie sich vorstellen können, ist, dass es einen Gruppendruck, eine Form von Zwang geben muss, weil ihrer Meinung nach niemand freiwillig queer sein kann.»
Und was sagen die Jugendlichen selbst dazu? Die 17-jährige omnisexuelle Elodie hält fest: «Ich glaube, für mich wäre es kein Problem, wenn sich meine Sexualität noch einmal verändert. Dann ist es einfach so. Diese Rede von der Phase … Selbst wenn es nur eine Phase ist, dann ist es während dieser Phase so, und dann sollten Erwachsene das (…) akzeptieren.» Markige Worte findet die 16-jährige Samira, die sich in Menschen und nicht ins Geschlecht verliebt: «Wer behauptet, das sei nur ein Trend, dem sage ich: Bro, du hast keine Ahnung!» (aargauerzeitung.ch)
Es gibt für mich nur eine Regel: Die eigene Freiheit endet bei der Grenze der anderen.