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Antibiotika sind letzte Lebensretter – doch sind sie ein Verlustgeschäft

Antibiotika sind der letzte Lebensretter – und doch sind sie ein Verlustgeschäft

Kleine Mengen, tiefe Preise: In der Schweiz bringt die Pharma kaum mehr neue Antibiotika auf den Markt. Eine Ausnahme ist der italienische Hersteller A. Menarini. Dessen Chef sagt, was sich ändern muss.
24.09.2023, 17:2024.09.2023, 19:26
Pascal Michel / ch media
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«Wir stehen vor einer tickenden Zeitbombe. Eigentlich brauchen wir dringend neue, gegen resistente Keime wirksame Antibiotika. Doch zahlen will dafür niemand», sagt Daniel Roth, Chef der Pharmafirma A. Menarini. Dem 62-jährigen bereitet diese Entwicklung Sorgen. Und zwar nicht nur aus geschäftlicher Sicht. Sondern auch aus Sicht der Patienten: «Es fehlt in der Schweiz an Therapiemöglichkeiten von zunehmend resistenten Keimen. Es braucht deshalb ein Anreizsystem für Reserveantibiotika.»

Antibiotika (Symbolbild)
Antibiotika.Bild: Shutterstock

Daniel Roth muss es wissen. Unter seiner Leitung brachte der Pharmahersteller A. Menarini mit Ableger in Zürich Oerlikon in den letzten zwei Jahren drei neue Antibiotika auf den Markt. Damit ist der grösste Pharmahersteller Italiens eine Ausnahme. Die meisten Konkurrenten haben sich aus der Forschung und Produktion zurückgezogen.

Letzte Hoffnung auf der Intensivstation

Wie die Preismisere sein Geschäft trifft, zeigt der gebürtige Aargauer anhand eines seiner neuen Medikamente auf. Dieses Antibiotikum gegen sehr spezifische Keime lancierte Roth vor zwei Jahren. Spitäler nutzen es als sogenanntes Reserve-Medikament. Es kommt also erst zum Einsatz, wenn andere Antibiotika nicht mehr anschlagen. Patientinnen und Patienten, die dieses lebenswichtige Mittel benötigen, liegen zum Beispiel auf der Intensivstation und haben sich dort eine Lungenentzündung eingefangen.

Die Lizenz für das Produkt hat sich A. Menarini von einer amerikanischen Biotechnologiefirma gesichert und vertreibt es nun in Europa. Die Therapie dauert in der Regel fünf Tage bis zwei Wochen. Pro Tag wird eine Packung à sechs Fläschchen verschrieben; die Packung kostet das Spital 465 Franken.

Was nach einem stolzen Betrag tönt, ist laut Roth ein Verlustgeschäft. «Da es aufgrund der Indikation nur bei zirka 50 Patienten pro Jahr eingesetzt werden kann, ist es unmöglich, die Kosten für Forschung, Vertrieb und Lagerhaltung zu decken.» Man halte das defizitäre Produkt nur deshalb am Markt, weil das familiengeführte italienische Mutterhaus diese strategische Entscheidung stütze. «Wären wir Aktionären verpflichtet, die Rendite fordern, würde das niemals gebilligt und das Produkt eingestellt.»

Der Fall steht exemplarisch dafür, was aus Sicht der Pharmaindustrie an der Antibiotika-Front schiefläuft. Die Zahl der multiresistenten Keime nimmt zu. Doch statt dieser «stillen Pandemie» mit Investitionen in die Entwicklung und die Verfügbarkeit zu begegnen, stagniert die Forschung zu neuen Wirkstoffen. Das Geschäft ist finanziell schlicht nicht interessant.

In der Spezialmedizin wie bei Krebs oder seltenen Krankheiten locken dagegen lukrative Margen von 40 Prozent und mehr. Das war für den Basler Pharmariesen Novartis ein Grund, seine Generikasparte abzustossen und Anfang Oktober an die Börse zu bringen. Die günstigeren Nachahmerprodukte werfen zu wenig Gewinn ab.

Für Daniel Roth ist es unverständlich, dass Alain Bersets Bundesamt für Gesundheit bei der Preissetzung für Antibiotika beim sogenannten WZW-Prinzip - Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit - primär die Preise drücken will: «Ein neues Antibiotikum kann Menschenleben retten. Wir reden von einer kompletten Heilung, nicht von ein paar zusätzlichen Lebensmonaten. Da kann es doch nicht nur darum gehen, einen möglichst günstigen Preis auszuhandeln.»

Das Problem im Vergleich zu anderen Medikamenten ist ein Fehlanreiz, der spezifisch Antibiotika betrifft: Um die Zunahme von Resistenzen zu verhindern, sollten die Mittel möglichst wenig verschrieben werden. Dieser Mechanismus, sofern von Ärzten und Apothekern berücksichtigt, hat für die Unternehmen aber einen unangenehmen Nebeneffekt. Die Absatzmöglichkeiten ihrer Produkte sind stark eingeschränkt.

Ein «Netflix» für die Antibiotika

Abhilfe schaffen könnten neue Entschädigungsmodelle, die Neuentwicklungen fördern und die Bedingungen für den Markteintritt verbessern. Derzeit arbeiten Experten und Industrie am «runden Tisch Antibiotikaresistenzen» an einer Auslegeordnung für ein Schweizer Förderkonzept.

Zur Debatte steht ein sogenanntes «Netflix-Modell»: Der Staat soll etwa für Reserveantibiotika eine fixe Summe, unabhängig der verkauften Packungen, bezahlen. Damit hätten die Firmen einen Anreiz, Produkte am Markt zu halten und in Neuentwicklungen zu investieren. Bis Mitte nächstes Jahr soll ein Konzept für ein Pilotversuch vorliegen.

An einem Treffen des Gremiums im November werden auch Vertreter des Bundesamts für Gesundheit anwesend sein. Man unterstütze den runden Tisch mit einer Subvention, heisst es auf Anfrage. «Um sich aktiv an der Erarbeitung internationaler Initiativen beteiligen zu können, müssen die nationalen Voraussetzungen und potenzielle Umsetzungsmodelle für solche Anreize in der Schweiz geprüft werden.» Daneben hat der Bundesrat gerade am Freitag entschieden, künftig den Verkauf von Generika zu fördern und den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten zu verbessern.

Bleibt die Frage: Ist es nicht gewagt, dass die Hersteller trotz ungemütlicher Aussichten auf explodierende Krankenkassenprämien mehr Geld für ihre Produkte fordern? Schliesslich, und das monieren Kritiker seit Langem, treibt gerade diese Dynamik die Gesundheitskosten nach oben: Sparen wollen alle - ausser bei sich selbst. Daniel Roth widerspricht. Längerfristig komme es für das Gesundheitssystem günstiger, wenn das richtige Medikament verfügbar sei und korrekt eingesetzt werde. «Die Patienten können früher zurück zur Arbeit und bleiben weniger lange im Spital.»

Tausende Lebensjahre gehen verloren

Bis die Schweiz ein «Netflix-Modell» für Antibiotika einführt, dürfte es noch Jahre dauern. Der runde Tisch rechnet damit, dass ein solches gegen Ende dieses Jahrzehnts bereitstehen könnte, sofern die Politik dazu Hand bietet. Die Zeit drängt. Kürzlich veröffentlichte das Zentrum für Antibiotikaresistenzen eine Studie, wonach Schweizerinnen und Schweizer jährlich über 6800 Lebensjahre wegen multiresistenter Bakterien verlieren. (aargauerzeitung.ch)

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