Über Sex zu reden, fällt vielen Menschen schwer. Über sexuelle Gewalt zu reden noch schwerer. Ein Ort, an dem vielen das Reden im Allgemeinen ausgesprochen leicht fällt, ist das Parlament.
Am Montag werden die Mitglieder des Nationalrats über sexuelle Gewalt reden im Rahmen der Revision des Sexualstrafrechts. Vieles ist unbestritten. Ein neuer Artikel stellt Rachepornografie («revenge porn») unter Strafe, Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe werden neu definiert, Mindeststrafen für sexuelle Handlungen an Kindern angehoben, dem Schutz der sexuellen Integrität mehr Gewicht eingeräumt.
Manche sprechen von einer Revolution. Für andere ist es eine überfällige Anpassung an einen längst vollzogenen gesellschaftlichen Wandel.
Dass es so weit gekommen ist, hat viel mit der Parole «Nur Ja heisst Ja» zu tun. Damit wirbt eine breit abgestützte Allianz unter Federführung der Schweizer Sektion von Amnesty International seit Jahren für eine Reform des Sexualstrafrechts.
Die Parole steht auch bei der Debatte im Nationalrat im Zentrum. Die grosse Kammer entscheidet, ob sie der vorberatenden Rechtskommission folgt und sich für die Zustimmungslösung («Nur Ja heisst Ja») ausspricht. Sie verbietet sexuelle Handlungen «ohne die Einwilligung der betroffenen Person». Oder aber der Nationalrat entscheidet sich für die Widerspruchslösung («Nein heisst Nein»), wie der Ständerat. Sie verbietet sexuelle Handlungen «gegen den Willen der betroffenen Person».
Die «Nur Ja heisst Ja»-Regel widerspreche zentralen Grundsätzen des Strafrechts. Sie bringe eine Beweislastumkehr und das Ende des Grundsatzes «im Zweifel für den Angeklagten», sagen die Befürworter der Widerspruchslösung.
Für die Anhänger der Zustimmungslösung hingegen schützt die «Nein heisst Nein»-Regel potenziell die Täter – und zwar in Situationen, in denen das Opfer nicht in der Lage ist, seinen Willen zu äussern.
Es ist eine erstaunliche Entwicklung: Eine tiefgreifende Reform des Sexualstrafrechts steht kurz bevor – und nur ein einziger inhaltlicher Aspekt ist politisch noch umstritten.
Noch vor wenigen Jahren sah der Bundesrat überhaupt keine Notwendigkeit für eine grössere Revision. Er schlug 2017 lediglich eine Erhöhung der Mindeststrafe sowie eine begrenzte Anpassung des Straftatbestands der Vergewaltigung vor.
Die am stärksten kritisierte Eigenheit der Schweizer Gesetzgebung wollte der Bundesrat unangetastet lassen: Heute muss für eine Verurteilung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung nachgewiesen werden können, dass der Täter das Opfer bedroht, Gewalt angewendet, es unter psychischen Druck gesetzt oder zum Widerstand unfähig gemacht hat.
Um das festzustellen, beurteilen die Gerichte in der Rechtssprechung oft, ob sich das Opfer gewehrt hat. Ist dies nicht der Fall, lautet das Urteil häufig nur auf sexuelle Belästigung.
Anders als der Bundesrat sah Amnesty dadurch internationale Menschenrechtsnormen missachtet. Mit öffentlichem Druck sollte eine weiterreichende Reform erzwungen werden. «Wir hatten Angst, dass wir zu spät kommen», sagt Kampagnenverantwortliche Cyrielle Huguenot. Der bundesrätliche Vorschlag war Teil der Strafrechtsharmonisierung, die im Parlament bereits weit gediehen war.
Das Terrain für die Kampagne war günstig. Debatten über Sexualstrafrechtsreformen in Deutschland und Schweden strahlten bis in die Schweiz aus. 2017 berichteten Frauen auf der ganzen Welt unter dem Hashtag #MeToo über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt.
Hierzulande setzte Amnesty das Thema im Mai 2019 endgültig auf die politische Agenda. Das Forschungsinstitut Gfs Bern präsentierte eine Umfrage zum Thema im Auftrag von Amnesty. Deren Ergebnisse lösten ein riesiges Medienecho aus: Mehr als jede fünfte Frau in der Schweiz im Alter von über 16 Jahren hat gemäss Umfrage schon einmal sexuelle Gewalt erlebt.
Die Ergebnisse seien plausibel und hätten sie persönlich nicht überrascht, sagt Mitautorin und Politologin Cloé Jans vom Gfs Bern: «Doch in der Öffentlichkeit und der Politik haben sie viel Konsternation ausgelöst. Und den Willen verstärkt, etwas zu ändern.»
Einen ersten zählbaren Erfolg erreichte die Kampagne im Februar 2020: Die Rechtskommission des Ständerats beschloss, die Reform des Sexualstrafrechts von der Strafrechtsharmonisierung abzuspalten und separat zu behandeln. Es folgte ein regelrechtes Kampagnen-Powerplay. Jeder Schritt im parlamentarischen Prozess wurde von Petitionen, Ausstellungen und Podiumsdiskussionen begleitet.
Zur wichtigen Stimme für die Kampagne wurde eine Gruppe von betroffenen Frauen. Die Influencerin Morena Diaz und andere Opfer von sexueller Gewalt gingen mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit. Das habe einen «direkten Input» gehabt, sagt Amnesty-Kampagnenleiterin Cyrielle Hugenot: «Ich merkte, wie Aussagen von betroffenen Frauen den Weg in die Ratsdebatte fanden.»
Der Ständerat machte im Juni 2022 den Weg frei für eine weitreichende Reform. Insbesondere schaffte er das Nötigungsmerkmal ab. Aber er lehnt die «Nur Ja ist Ja»-Regel ab und will eine Widerspruchslösung.
Amnesty zieht noch einmal alle Register des Campaignings. Im April präsentierte die NGO eine weitere Umfrage des Gfs Bern, wonach die Zustimmungslösung am meisten Unterstützung hat in der Bevölkerung. Junge und Frauen sprechen sich besonders deutlich dafür aus.
Ende Oktober stellt sich die nationalrätliche Rechtskommission klar hinter die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung. Um Druck auf den Nationalrat aufzubauen, reicht Amnesty wenig später eine weitere Petition mit 40'000 Unterschriften ein.
Die Chancen stehen gut, dass der Nationalrat am Montag die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung wählt. Die Frage ist, ob er sich am Ende gegen den Ständerat durchsetzen wird. Für Politologin Cloé Jans wäre es bezeichnend, wenn der im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ältere und männlichere Ständerat der Sexualstrafrechtsrevision seinen Stempel aufdrücken würde.
«Unsere jüngste Umfrage hat gezeigt, dass insbesondere jüngere Frauen, die am ehesten von sexueller Gewalt betroffen sind, eine ganz andere Lesart davon haben, was sexuelle Grenzüberschreitungen sind als ältere Männer», sagt Jans. Es stelle sich die Frage, auf wessen Interessen und Bedürfnisse das Parlament bei seinem Entscheid Rücksicht nehmen wolle.
Die Berner Juristin Nora Scheidegger beriet sowohl Amnesty als auch das Bundesamt für Justiz. Ihre 2018 publizierte Dissertation zu den Lücken des geltenden Rechts sorgte für Aufsehen.
Scheidegger befürwortet die Zustimmungslösung. Doch in der Praxis seien die Unterschiede zur Widerspruchslösung nicht riesig. Entscheidend sei die Rechtssprechung der Gerichte im konkreten Fall.
Inwiefern die «Nur Ja heisst Ja»-Regel eine präventive Wirkung erzielen könnte, sei schwierig abzuschätzen. Doch Scheidegger ist überzeugt, dass sie «als Mosaikstein» zum gesellschaftlichen Wandel beitragen kann: «Dass häusliche Gewalt nicht mehr als Privatsache und Vergewaltigung in der Ehe nicht mehr als Kavaliersdelikt gelten, hat auch mit den entsprechenden Änderungen im Strafrecht zu tun.» (aargauerzeitung.ch)
1. Es würde immernoch Aussage gegen Aussage stehen.
2. Jetzt müsste halt der Handelnde fragen , ob es OK ist und nicht mehr der nicht handelnde sagen, dass es imfall dann nicht i.O. ist?
Weil wenn dem so wäre, sehe ich das Problem nicht so ganz, was daran so schlimm sein sollte. Haben wir doch - ganz nüchtern betrachtet - bei allem anderen auch. Bevor ich bspw. was ausleihe, frage ich auch ob das ok ist und nehm es mir nicht einfach so mit der Begründung "er hat nicht gesagt dass ich es nicht nehemen darf..."
Ausser der Begrifflichkeit bin ich aber durchaus dafür einen neuen Straftatbestand einzuführen, der die Thematik anfasst. Nur die Subsumtion unter "Vergewaltigung" find ich persönlich deplatziert.