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Schweiz: So ergeht es SAC-Hüttenwartinnen und -warten in den Bergen

MIttellegihütte Grindelwald
Was für ein Arbeitsort: Mittellegihütte des Bergführervereins Grindelwald auf 3355 m ü. M., im Hintergrund der Eigergipfel.Bild: Melanie Lehnherr

Die glücklichen Hüttenwartinnen und Hüttenwarte – oder doch nicht?

Viele haben schon davon geträumt: eine Berghütte zu führen und hoch oben an der frischen Luft zu arbeiten. 22 Männer und Frauen erfüllen sich dieses Jahr den Traum. Wir wollten wissen, wie es ihnen in ihrer ersten Saison ergangen ist.
09.10.2023, 14:2410.10.2023, 08:33
René Fuchs / ch media
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«Wegweiser zur erfolgreichen Hüttenbewartung», steht auf der Broschüre, die vor Claudia Künzli, 45, Grosswangen LU, liegt. Die im Marketing tätige zweifache Mutter erfüllt sich gerade den Lebenstraum, eine eigene Hütte in den Bergen zu führen. Zusammen mit einem Bergführer kann sie die Rugghubelhütte hoch über Engelberg übernehmen.

Ja, wie wär das: Jeden Tag an der frischen Luft und von der Natur umgeben arbeiten, weit weg von der Hektik der Städte? Viele träumen davon, Hüttenwart oder Hüttenwartin zu werden. Und manche tun es eines Tages tatsächlich.

«Ich mache mir sehr viele Gedanken, was auf mich zukommen wird», sagt Claudia Künzli. Durch ihre Erfahrungen als Hüttengehilfin auf der Gleckstein- und Wildhornhütte hat sie keine falschen, zu romantischen Vorstellungen: Hektik und dicke Luft, das gibt es auch in einer Berghütte. Und Arbeitstage mit 16 Stunden, die mental und körperlich jeden herausfordern. Mit wenig Freizeit: Wenn draussen das Wetter am schönsten ist, fällt drinnen am meisten Arbeit an. Man ist Unternehmer, Köchin, Coach, Technikerin, Meteorologe, Biologin, Tourismus-Guide, Samariterin und Psychologe in einer Person.

Viele müssen lange warten, bis sie den Traum realisieren können

Meistens ist der Hüttenwartkurs des Schweizer Alpen-Clubs SAC und der Schweizer Hütten die Voraussetzung dazu. Viele müssen lange warten, bis sie ihn aus beruflichen, familiären oder organisatorischen Gründen endlich absolvieren können.

Martin Imhof, Kursleiter des Hüttenwartkurses 2023.
Martin Imhof, Kursleiter des Hüttenwartkurses 2023.René fuchs

Rund 370 Berghütten stehen in der Schweiz, davon 153 SAC-Hütten. «Jede hat ihren eigenen Charakter und ihre eigenen Anforderungen», sagt Martin Imhof. Er leitet den jährlichen Hüttenwartkurs des SAC und der Schweizer Hütten. Die Ausbildung gliedert sich in fünf Module à je drei Tage. Vier davon finden in der Hotelfachschule Thun und eines auf der Silvrettahütte statt. Betriebswirtschaft, Gastronomie, Technik, Personal, alpine Umwelt, Erste Hilfe und Kooperationen sind die Themen. Ein Dutzend Fachspezialisten bilden die Kursteilnehmenden aus. Vor der Anmeldung müssen mindestens zwei praktische Einsätze von jeweils zwei Wochen in einer dafür bezeichneten Hütte geleistet werden. Die Kursgebühr beträgt 3990 Franken. «Mit dem Besuch des Hüttenwartkurses schaffen wir gute Voraussetzungen, um den Traum zu erfüllen», sagt Imhof.

Ende Juni sind wir mit ihm auf der Silvrettahütte auf 2341 m ü. M vor Ort. Östlich von Klosters GR, unterhalb des Silvrettagletschers, bietet die SAC-Hütte 69 Schlafplätze. Der eine oder andere Schneefleck ziert die Gebirgslandschaft zu Beginn der Hüttensaison. Seit einem Tag sind 22 Kursteilnehmende, 19 Frauen und 3 Männer, hier oben im Einsatz. An diesem Nachmittag gilt es in drei Gruppen, Wanderwege mit Stegen zu versehen, Wegweiser aufzustellen, das Nachtessen vorzubereiten und Einblicke ins Marketing zu erhalten.

Der Hüttenweg wird für die Sommersaison wieder instand gestellt. Die Teilnehmenden des Hüttenwartkurses packen mit an.
Der Hüttenweg wird für die Sommersaison wieder instand gestellt. Die Teilnehmenden des Hüttenwartkurses packen mit an.zvg

Mit dem Hüttenfieber infiziert

Die Motivation ist den Gesichtern anzusehen. Viele der 28 bis 60 Jahre alten Kursteilnehmenden haben schon oft auf Hütten gearbeitet. Auch die Zürcherin Monika Eberhard, 34. «Der Gedanke, Hüttenwartin zu werden, liess mich seit meinen Einsätzen auf der Hundsteinhütte östlich des Säntis nicht mehr los», sagt sie, «vor fünf Jahren haben mich die Berge nicht annähernd fasziniert, doch seit der Coronazeit ist es ganz anders.» Der Traum, die Hundsteinhütte im Appenzellerland zu führen, wird Realität.

Auch der 47-jährige Betriebswirtschafter Ivo Husi hat sich mit dem Hüttenfieber infiziert: Vor 13 Jahren hatte er eine Sommersaison als Gehilfe auf der Sewenhütte im Kanton Uri verbracht. «Der Traum, im Sommer selbstständig auf einer Hütte zu arbeiten, hat mich seither nicht mehr losgelassen.» Er ist sich sicher: Bergbegeisterten mit einer guten Unterkunft und einem feinen Essen eine Freude bereiten zu können, wird ihn glücklich machen.

Doch die Gäste sind anspruchsvoller geworden. Das sagt auch Marco Brot, Hüttenwart der Silvrettahütte.

«Heute ist für viele Gäste die Hütte das Ziel. Der Genuss steht mehr im Fokus als eine ambitionierte Bergtour.»

Im zum Kurslokal umfunktionierten Aufenthaltsraum lässt er sich in die Karten blicken. Kalkulationsrechnungen werden vorgelegt, Fragen zur Personalrekrutierung, zu Anstellungsverträgen, Pachtverträgen und zur Zusammenarbeit mit den Hüttenbesitzern und Einheimischen offen diskutiert. Fallbeispiele mit ratsuchenden oder unzufriedenen Gästen werden fiktiv nachgespielt. «Oft versuchen Gäste, die Verantwortung für eine Tour in die Schuhe des Hüttenwarts zu schieben», berichtet Brot. «Beratung ja, aber schlussendlich ist jeder für sich selbst verantwortlich», hält er fest.

Marco Brot, Hüttenwart der Silvrettahütte, gibt sein Wissen im Kurs weiter.
Marco Brot, Hüttenwart der Silvrettahütte, gibt sein Wissen im Kurs weiter.René fuchs

Wer dort oben arbeitet, muss sich zu helfen wissen

Die Herausforderungen sind vielfältig: Was, wenn die Wasserleitung nicht mehr funktioniert? Wie sollen die Transportflüge geplant werden? Wer unterhält den Hüttenweg? Vernetzt zu denken, frühzeitig organisatorische Vorkehrungen zu treffen und über die nötigen Kontakte zu verfügen, ist das A und O. Denn, wenn etwas ausgeht, ist der Nachschub nicht gleich um die Ecke. Und Wetterkapriolen sind auf diesen Höhen schnell Wirklichkeit, dann fliegt kein Heli, aber auch die Gäste bleiben aus. Und durch Lebensmittelunverträglichkeiten der Gäste ist auch immer mehr Können in der Küche gefordert.

Neben den Hüttenarbeiten muss auch noch jemand das Marketing machen: Die Website muss aktuell, informativ und mit aussagekräftigen Bildern bestückt sein.

Eine der Kursteilnehmenden ist Melanie Lehnherr, 28, Tourismusfachfrau aus Unterseen bei Interlaken. Exponierter könnte ihre erste Saisonstelle als Hüttenwartin in diesem Sommer nicht sein. Die Mittellegihütte des Bergführervereins Grindelwald steht auf dem schmalen Nordostgrat des Eigers auf 3355 m ü. M. und bietet 40 Alpinisten Platz. Wir bleiben mit ihr in Kontakt.

Hüttenwartin Melanie Lehnherr neben der Mittellegihütte, im Hintergrund der Eiger.
Hüttenwartin Melanie Lehnherr neben der Mittellegihütte, im Hintergrund der Eiger.zvg

Lange Tage auf der Mittellegihütte

Am 9. Juni 2023, zwei Tage nach dem Saisonstart, sagt sie am Telefon: «Ich kann es noch kaum fassen, dass mein Traum in der Mittellegihütte in Erfüllung geht.» Bereits als Schulkind und später als Hüttengehilfin hatte die Berner Oberländerin in der Glecksteinhütte ob Grindelwald Erfahrungen gesammelt. Dass die Arbeit ein Knochenjob sein kann, war ihr klar. Sie ist gespannt, wie sie körperlich und mental die erste Saison allein auf der hochalpinen Hütte meistern wird. Ihr Tageswerk beginnt an sonnigen Tagen um 3.30 Uhr und endet mit kurzen Unterbrüchen um 23 Uhr. Hüttenchef und Bergführer Fritz Brawand sowie ein gutes Umfeld stehen ihr bei Bedarf zur Seite.

Anfang August 2023 verbringt Lehnherr wetterbedingt zwei Wochen im Tal. Der Mittellegigrat ist schneebedeckt. «Die Unplanbarkeit aufgrund der exponierten Lage und der Wetterverhältnisse ist die grösste Herausforderung», sagt sie. Wieder oben, kann sie das Problem mit der verstopften Wasserleitung lösen.

Hüttenwart: «Der Arbeitstag ist repetitiv»

Im September nehmen wir einen Augenschein auf einer anderen Hütte, die einen neuen Hüttenwart bekommen hat: der Gspaltenhornhütte im Kiental im Kanton Bern. Der Walliser Thomas Jentsch, 42, hat am 9. Juni zusammen mit seiner Partnerin Monika Schmidlin, 38, hier seine erste Saison in Angriff genommen. «Trotz des wechselhaften Sommerwetters sind wir mit den Übernachtungszahlen zufrieden», hält der ehemalige Primarlehrer fest. Kennengelernt hat er seine Partnerin auf der Turtmannhütte. Dort war Jentsch fünf Jahre lang die rechte Hand des Chefs. 2021 absolvierte er den Hüttenwartkurs und erwarb ein Jahr darauf das Walliser Wirtepatent. Jetzt ist er selber Chef.

Keine Anfänger: Hüttenwartpaar Monika Schmidlin und Thomas Jentsch auf der Gspaltenhornhütte.
Keine Anfänger: Hüttenwartpaar Monika Schmidlin und Thomas Jentsch auf der Gspaltenhornhütte.René fuchs

Die Gspaltenhornhütte, weit weg von der Zivilisation mit 59 Betten, entsprach den beiden. Der Hüttenwartkurs ist für ihn nur die Basis: «Der herausfordernde und überraschende Hüttenalltag ist der beste Lehrmeister», findet er. Und doch wäre er froh gewesen, er hätte vor dem Start noch mehr über Personalmanagement und den Umgang mit den eigenen Ressourcen erfahren. Er findet es schwierig, pflichtbewusstes Personal zu finden: «Vier Fünftel der Bewerber für einen Job als Hüttenhilfe haben eine falsche Vorstellung vom Hüttenleben. Ihr romantisches Bild lässt sich während der langen Arbeitstage mit vielen repetitiven Einsätzen im Haus nicht umsetzen», sagt Jentsch.

Und selbst er spürt, wie die eigenen psychischen Ressourcen im letzten Saisondrittel schwinden. 16 Stunden am Tag an der Arbeit mit wenig Schlaf zu sein, ist hart. «Ohne schlechtes Gewissen auch mal Pausen einzubauen, wäre angebracht», sagt seine Partnerin Monika Schmidlin. Wie die mentale Kraft im Hüttenalltag gestärkt werden kann, fänden beide wichtig. «Darauf ein besonderes Augenmerk im Hüttenwartkurs zu werfen, könnte helfen», sagt Jentsch. Dennoch werden die beiden nächsten Sommer die zweite Saison starten. «Für uns ist es eine sehr erfüllende Arbeit, und mehr Zeit für uns selbst werden wir einplanen», fügt Jentsch bei.

Zwei Todesfälle gleich in der ersten Saison

Und wie lautet die Bilanz von Melanie Lehnherr auf der Mittellegihütte eine Woche vor Saisonschluss am 3. September? Wetterkapriolen mit Kaltlufteinbrüchen und heissen Sommertagen machten die Planung schwierig. 400 Übernachtungen in 13 Tagen waren die intensivste Zeit. Dann starben am 15. August auch noch zwei ihrer Gäste im Aufstieg zur Hütte. Lehnherr sagt: «In solch einer Situation funktioniert man und erledigt eines nach dem anderen. Die anderen Gäste waren da, und somit galt es, den Betrieb aufrechtzuerhalten.»

Als wenn es nicht genug wäre, schnitt sich Melanie Lehnherr am 22. August beim versehentlichen Griff in die Klinge des Wursthobels ein Loch in den linken Zeigefinger. Zur ärztlichen Versorgung musste sie mit der Rega ins Tal geflogen werden. Vom 24. August bis zum 2. September war die Hütte aufgrund von Schneefällen geschlossen. Nun ist ihre Mutter Marianne bis zum Saisonabschluss am 11. September bei ihr in der Hütte und unterstützt sie.

Melanie Lehnherr in der Küche der Mittellegihütte. In dieser Höhe brauchen die Hörnli viel länger als üblich.
Melanie Lehnherr in der Küche der Mittellegihütte. In dieser Höhe brauchen die Hörnli viel länger als üblich.zvg

«Die Tätigkeit als Hüttenwartin erfüllt mich sehr, aber mir wurden psychisch und physisch auch die Grenzen aufgezeigt», hält Lehnherr fest. «Nach den monatelangen Vorbereitungen und der gut zweimonatigen Bewartungszeit bin ich müde geworden. Nun freue ich mich auf eine Auszeit und meine Tätigkeit im Tal.» Sie arbeitet dort bei Thun-Thunersee Tourismus als Abteilungsleiterin. Sie findet: «Jede Hütte ist einzigartig. Die Hüttenwartin muss zur Hütte passen, sonst gibt es ein böses Erwachen.» Nun gilt es für sie selbst, die Hüttensaison in aller Ruhe Revue passieren zu lassen. (aargauerzeitung.ch)

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11 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Grobianismus
09.10.2023 14:58registriert Februar 2022
Ich würde gerne eine Zeit lang in einer Berghütte wohnen, aber nicht wenn ich mich um Gäste kümmern muss. Lieber einige Wochen als Einsiedler.
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H. Fröhlich
09.10.2023 14:58registriert März 2019
Wie im Titel geschrieben: "Frische Luft" und "Berghütte". Zwei Begriffe die meiner Erfahrung nach nicht zusammen pasen. In diesen Berghütten, speziell die ohne Strom, resp. Lüftung, ist meist äusserst schlechte Luft. Viele Leute auf sehr engem Raum. Fenster zu wegen Kälte oder Wind.
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Bero
09.10.2023 17:37registriert April 2019
Danke für den spannenden Einblick! Es fällt schon auf, dass sich die Klientel in den letzten 10 Jahren stark verändert hat. Die Tendenz geht von Bergsport weg hin zu Tourismus.

Früher war ich froh um fließend Wasser, die Temperatur war absolut irrelevant. Heute fragen mich meine Begleitenden, ob es Duschen hat und ein Plumpsklo wirkt irritierend…

Ein nachvollziehbarer Prozess. Und dennoch auch mit etwas Wehmut verbunden.

Gleichzeitig sollten wir froh sein, wenn immer mehr Menschen “hautnah” erleben und sehen, wie sich unsere Welt verändert.
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