Liebe Brasserie Lorraine
Ich habe schon viel von dir gelesen. Gefühlt haben alle über 40 mit Zugang zu Internet und Tastatur sich schon über dich ausgelassen. Weil du ein Konzert hast abbrechen lassen. Wegen einer Frisur, die unter dem Aspekt der «Cultural Appropriation» unzulässig sei.
Nun hast du es wieder getan und dich geweigert, Angehörige der Armee zu bedienen, die sich ihrer Uniformen nicht entledigen wollten. Auch dafür wirst du gebasht.
Und ich prophezeie: Es wird nicht lange dauern, bis du das nächste Mal Gegenstand landesweiter, wenn nicht internationaler Empörungs-Berichterstattung wirst. Nur, weil du deine radikalprogressiven gesellschaftspolitischen Vorstellungen am Exempel statuierst.
Lass dich davon bloss nicht beirren, es ist genau das, was du tun musst.
Vermutlich kannst du dich noch erinnern an die Jugendbewegung der 68er? «Wer zwei Mal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment», skandierten die. Und sie frönten zum Entsetzen ihrer bürgerlichen Elterngeneration vor den Kameras der Weltmedien in der «Kommune 1» der freien Liebe.
Was den 68ern die «Kommune 1» war, bist du der Jugendbewegung der Millennials und der Generation Z: Gebäude gewordene Projektionsfläche der Rebellion gegen die Elterngeneration.
Vermutlich bist du für letztere sogar noch wichtiger als für die sogenannten «Woken». An dir kann sich die Entrüstung der Generation X und der Babyboomer Bahn brechen. Die Entrüstung über die immanente Kritik an ihrem Lifestyle und an ihren Versäumnissen. Die Entrüstung, deren Einhelligkeit und deren Furor auch ein wenig auf Getroffenheit schliessen lassen.
Ist es vielleicht gar nicht völlig verwerflich, konsequent auf Minderheiten Rücksicht zu nehmen? Ist es vielleicht gar nicht total dumm, sich der kolonialen Wurzeln des eigenen Wohlstands bewusst zu sein? Und ist es allenfalls nicht komplett bescheuert, tradierte Rollenbilder zu hinterfragen?
Die Erkenntnis, dass eine neue Generation künftig die Verhältnisse prägen wird und nicht mehr man selbst, ist nicht leicht zu verdauen. Daher rührt die grosse Entrüstung über dich. Nicht von einem ruinierten Konzert oder einer unbedienten Uniform.
Aber keine Angst, der Trubel wird sich mit der Zeit auch wieder legen.
Die Forderungen nach Gleichberechtigung und Rücksichtnahme, Kern des woken Werte-Kanons und kultureller Code der aktuellen Jugendbewegung, werden in ihrer Radikalität an der Realität scheitern.
Auch die 68er-Kommunarden haben irgendwann ihren Marsch durch die Institutionen angetreten und ihre Anliegen in gesellschaftsfähiger Form durchgesetzt. Erschöpft, nach mehreren Jahren LSD und Gruppensex.
Immerhin: Letzterer bleibt dir erspart.
Lieber Gruss
Dein Maurice Thiriet
Mag die "konsequente Rücksichtnahme auf Minderheiten" noch irgendwie verständlich sein bzw. als Hintergrund für den Konzertabbruch dienen, ist die Umsetzung dieses Gedankens mindestens fragwürdig.
Sprich: Musik & Style der Band waren den Veranstaltern bekannt. Warum lässt man diese ins offene Messer laufen?
Uniformen (die zwangsläufig getragen werden) abzulehnen ist okay (Hausrecht), passt aber nicht zum Toleranz-Image.