Die Pharmaindustrie ist der Jobmotor der Schweiz. Die Zahl der Beschäftigten in der Branche hat sich seit 1980 verdoppelt. Derzeit arbeiten 282'000 Angestellte direkt oder indirekt für Roche, Novartis und Co. Auch der Beitrag dieser Firmen zur helvetischen Wirtschaftskraft ist eindrücklich: Die Pharma steuert jeden zehnten Franken zum Bruttoinlandprodukt bei, die Firmen stemmen 40 Prozent der hiesigen Exporte.
«Die Schweiz hat sich zu einem attraktiven Standort entwickelt. Das ist eine Erfolgsgeschichte», sagte René Buholzer, Geschäftsführer des Verbands Interpharma, am Donnerstag vor den Medien. Nachdenklich schob er nach: «Wir stehen gut da. Aber das ist nicht das Verdienst der aktuellen Generation von Politikern. Die Investitionen werden zunehmend im Ausland getätigt.»
Es gehört zur Aufgabe eines Branchenverbands, für die Interessen seiner Mitglieder zu werben. In diesem Fall sind es die forschenden Pharmaunternehmen in der Schweiz. Dabei gehört es zum gängigen Repertoire der Lobbyarbeit, zuweilen alarmistische Töne anzuschlagen. Ganz nach dem Motto: Besser einmal zu viel warnen, als einmal zu wenig.
Nun gibt es tatsächlich Anzeichen dafür, dass die Schweiz an Attraktivität einbüsst. Der Konkurrenzkampf um die Firmen – die auch gute Steuerzahler sind – hat sich in den letzten Jahren verschärft. Spanien, Grossbritannien, die Niederlande oder Belgien haben eigene Pharmastrategien entwickelt. Sie wollen führende Unternehmen anlocken. Gleichzeitig steht die Schweiz auch in Konkurrenz zu den USA und China, die in einschlägigen Rankings stark an Boden gewinnen.
Zuletzt buchstabierten zudem verschiedene Unternehmen in der Schweiz zurück. Das jüngste Beispiel ist Johnson&Johnson. Der US-Konzern hat angekündigt, sein Geschäft zu «optimieren», um in einem «sich rasant verändernden Umfeld» bestehen zu können. Konkretes erfährt man in der Mitteilung vom Mittwoch nicht; offenbar sollen aber 100 Stellen in der Schweiz betroffen sein. Auch der zum Konzern gehörende DePuy-Synthes-Europasitz in Zuchwil SO steht vor der Schliessung, so ein Gerücht. Johnson & Johnson beschäftigt in der Schweiz an neun Standorten 5500 Mitarbeitende.
Diese Entwicklungen bereiten Jörg-Michael Rupp Sorgen. Er ist der Leiter Pharma International bei Roche und fordert den Bundesrat dazu auf, eine eigene Pharmastrategie zu entwerfen. «Die Schweiz muss sich ernsthafte Gedanken machen, wie sie vorne dabei bleiben kann.» Wichtig sei, dass die Regierung eine langfristige Perspektive einnehme. Pharma-Firmen planen ihre Investitionen über lange Zeiträume von bis zu 20 Jahren. Die Botschaft des Roche-Managers lautet deshalb: Handelt die Politik jetzt nicht, kommt die Quittung zwar nicht unmittelbar. Aber sie kommt, und dann ist es zu spät.
Schlafen die zuständigen Bundesräte – Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) und Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider (SP) – also in dieser Hinsicht? So hart würde es René Buholzer nicht formulieren. Er sagt aber klar: «Dass der Bundesrat angesichts der aktuellen Entwicklungen keinen Handlungsbedarf sieht, verstehen wir nicht.» Damit spielt Buholzer auf die bundesrätliche Antwort zu einem parlamentarischen Vorstoss an. Vor vier Jahren wollte FDP-Ständerat Martin Schmid wissen, wie es um den Schweizer Pharmastandort steht. Er forderte auch einen Beirat, der die Regierung zur Zukunft der Industrie berät. Der Bundesrat erachtete dies als nicht nötig. Es gebe bereits genügend Gremien, um sich über künftige Entwicklungen auszutauschen.
Handlungsbedarf ortet Interpharma auch innerhalb des Schweizer Gesundheitswesens. Derzeit dauert es im Schnitt 300 Tage von der Zulassung eines Medikaments bis zur Aufnahme in die sogenannte Spezialitätenliste. Erst dann bezahlen alle Krankenkassen in der Grundversicherung eine Therapie. Pfizer-Schweiz-Chefin Sabine Bruckner bezeichnet dies als «traurigen Spitzenwert». Sie plädiert dafür, neue Medikamente ab «Tag 0» zu vergüten, also ab dem Tag, an dem Swissmedic ein Produkt zulässt. Die Preisverhandlungen würden in diesem Modell parallel geführt. «Für Patientinnen und Patienten zählt jeder Tag», sagt Bruckner.
Selbstredend gibt es noch die Perspektive der Behörden: Das BAG ist laut eigenen Angaben zunehmend «mit sehr hohen Preisforderungen» der Hersteller konfrontiert. Dies verzögere den Prozess. Zudem reichten die Firmen selbst ihre Gesuche immer später ein. Dennoch geht es nun vorwärts. Der Nationalrat hat sich kürzlich für eine Vergütung ab «Tag 0» ausgesprochen. Das Geschäft liegt nun bei der Kommission des Ständerats.